Lebendig

Jack Ketchum

Jack Ketchums Novelle “Right to Life” (1998 erschienen) ist nicht einfach zu betrachten. Ohne Frage als subversive Horrorgeschichte geht die Entführung und Folterung der älteren Sara Foster unter die Haut. Aber der Vergleich zu „The Girl next Door“  - basierend auf Tatsachen – zeigt, dass Ketchum sich nicht sicher gewesen ist, in welche Richtung er die Geschichte wirklich entwickeln möchte. Es sind sehr gute Ansätze vorhanden, aber rückblickend geht der Autor auch zu viele Kompromisse ein.

Sara Foster hat vor Jahren ihren Sohn durch einen tragischen Unfall verloren. Jetzt hat sie einen neuen Freund, der allerdings verheiratet ist und ebenfalls einen Sohn hat. Sie wird schwanger und entschließt sich zu einer Abtreibung. Sie machen einen Termin in der örtlichen Klinik. Vor der Tür wird sie entführt und findet sich in einem isolierten Keller wieder. Während ihrer Gefangenschaft wird sie verschiedenen sadomasochistischen Spielen unterworfen, wobei die Unterdrückung und weniger der Sex im Mittelpunkt steht. Ihre Entführer suggerieren, dass eine mächtige Organisation sie wegen der Abtreibung entführt hat und nicht nur ihre persönlichen Daten, sondern die ihrer Verwandten kennt.

Auch der Originaltitel „Right to Life“ impliziert, dass sich Ketchum auf die eine oder andere Art und Weise mit dem Thema Abtreibung auseinandersetzen wollte. Das ist nur vordergründig der Fall. Wenn man Ende dieses Thema im kleinen Kreis und doppelter Hinsicht positiv abgeschlossen wird, fühlt sich der Leser an der langen Leine die schwierigen Punkte umgehend im Kreis herumgeführt. Vielleicht ist Läuterung ein zu starkes Wort, aber wie bei allen eindimensionalen Figuren dieser Novelle wird die Erkenntnis mit dem Holzhammer eingetrichtert und die „alles wird auf eine gänzlich andere Art und Weise gut“ Mentalität stört. Sara Fosters Gründe zur Abtreibung werden kurz erläutert. Auch wenn ihr der Weg zur Klink schwerfällt, kann der Leser sie nachvollziehen.

Die Entführer sind ein nicht ganz so altes Ehepaar, die vordergründig gegen jede Form der Abtreibung sind. Sie wollen das Kind retten. Dazu entführen sie die Mutter und würden sie in einem „normalen“ Thriller so lange festhalten, bis das Kind geboren wird. Diese Entwicklung wird lange vorgezeichnet und die Argumentationsketten könnten dieser Prämisse entsprechen. Selbst die Idee, dass die Ehefrau des Entführers keine Kinder bekommen kann und zweitens als Krankenschwester arbeitet, passt auf den ersten Blick noch. Folgerichtig könnten sich die Entführer entschließen, entsprechende Spuren nach der Geburt zu beseitigen, das Kind zu behalten und dem Willen Gottes oder der Organisation zu folgen.  Nur geht es ihnen nicht um das Wohl des Kindes und natürlich noch weniger um das Wohl der Mutter. Während der Gefangenschaft gefährden sie nicht nur einmal das Kind und stellen sich damit auf die Stufe von Sara Foster. Diesen „Wahnsinn“ versucht Ketchum genauso wenig zu erläutern wie ihre abwegigen Gedanken. Der Leser hat den Ereignissen zu folgen. Ab der Mitte des Textes löst Ketchum für den Leser, aber nicht für Sara Foster die Idee auf, dass es sich tatsächlich um eine Organisation und weniger um Einzeltäter handelt. Selbst die Idee, dass die Ehefrau als Krankenschwester in mehrfacher Hinsicht Bedenken wegen der Behandlung von Mutter/ Kind haben könnte, überdeckt Ketchum mit der Argumentationskette, dass es sich eben um einen Sadisten handelt, der gerne anderen Menschen Schmerz zufügt. Über allem schwebt die Hoffnung, dass Mutter und Kind es überleben werden. Der Gedanke hinsichtlich der Abtreibung im Allgemeinen und die Situation kinderloser Eltern im Besonderen wird fallen gelassen. Das ist zu simpel und zu oberflächlich.

Hinsichtlich des Ehepaars greift Ketchum noch weiter in die Klischeekiste. Sie ist eine Masochistin, die seit vielen Jahren Schmerz empfängt und bis zu einem begrenzten Grad auch gutheißt. Als es zu lesbischen Handlungen auf Anweisung des Ehemanns kommt, beginnt ihre Front zu bröckeln. Als Krankenschwester ergreift sie nur selten und dann zu spät für die Gefangene und ihr Kind Partei. Sie müsste relativ schnell wissen, dass es nicht um das Entführen eines zum Tode verurteilten ungeborenen Kindes geht, sondern um die Befriedigung der sadistischen Gelüste ihres Mannes, der relativ spät die sexuelle Grenze zu seiner Gefangenen überschreitet. Im letzten Drittel verlangt er dann eine deutlich jüngere nächste Gefangene und schlägt nicht nur den Bogen zu „The Girl next Door“, sondern entlarvt sie als Serientäter, dem es weniger um das zu schützende Kind, sondern die Befriedigung der eigenen Lust geht. Das wäre in einem derartig sexuell sadistischen wie provozierenden Roman nicht zu verurteilen und würde den intensiv geschriebenen Text auch nahe an Ketchums verfilmtes Meisterwerk rücken. Die ursprüngliche und nicht vollzogene Intention des Autoren ist aber eine andere gewesen und diesen Vorwurf muss sich Jack Ketchum auch Gefallen lassen. Natürlich regt sich dadurch selbst in seiner devoten Gattin Widerstand.

Zu den Folterszenen. Durch den Wechsel der Perspektive Täter/ Opfer wird der Leser intensiver und nachhaltiger auch ins Geschehen gezogen. Bis auf eine einzige Situation sexuell expliziert – auch hier bleibt es bei den Beschreibungen der Folgen – konzentriert sich der Täter auf die Isolation des Opfers und das Brechen des Willens. Auspeitschen, komplizierte Fesselungen und schließlich auch die Isolation in einem eigens gebauten „Sarg“ sollen Sara Foster zerstören, wobei der Leser von Beginn an eher den Eindruck hat, als kontrolliere sie trotz ihrer Gefangenschaft die Situation. Sie wirkt zu ruhig, zu sehr planend. Sie scheint ihren auch absichtlich eindimensional, bis auf die Planung des Verbrechens dumm beschriebenen Entführern überlegen. Hinzu kommt, dass der Leser nicht wirklich das Gefühl hat, als wären Monate vergangen. Die Protagonistin „übersteht“ die Schwangerschaft bis auf die Bestrafungen durch die Peitsche sehr gut. Da die Entführer sich ihr zu erkennen gegeben haben – ein Fakt, den diese erst später deutlich nach Sara Foster und dem Leser realisieren werden -, bleibt nur die Möglichkeit, sie umzubringen. Die finale Konfrontation geht enttäuschend schnell vorüber, so dass der Leser sich fragt, ob die Novelle wirklich die geeignete Form für diese Erzählung gewesen ist. Romantechnisch hat Ketchum im Bereich Entführung, Folter und Tötungsabsicht mit „The Girl next Door“ alles geschrieben, was es zu schreiben ging. „Right to Life“ hätte vielleicht als Kurzgeschichte besser funktioniert. Oder als Roman, wenn sich Jack Ketchum entschlossen hätte, die Thematik Abtreibung und damit in doppelter Hinsicht das Recht zu leben – einmal das ungeborene Leben, darüber hinaus aber auch das Entführungsopfer – intensiver, dreidimensionaler und vor allem nuancierter anzugehen.

 „Tapferes Mädchen“ (Brave Girl) aus dem Jahre 2002 ist eine der beiden an die Novelle angehängten Kurzgeschichten. Ein vierjähriges Mädchen ruft beim Notruf an und rettet zusammen mit dem Ablassen des Badewassers seiner Mutter das Leben, die auf dem rutschigen Fliesen ausgerutscht sich den Kopf aufgeschlagen hat. Die Pointe ist in doppelter Hinsicht bitter und rückt nahe an den Texte heran, die Andrew Vacchs seit vielen Jahren schreibt. „Rückkehr“ (Returns) aus dem gleichen Jahr ist ohne die Pointe zu verraten eher eine gewöhnliche und damit auch zugängliche Geschichte, in welcher Jack Ketchum übernatürliche Ereignisse impliziert, während seine Romane und Kurzgeschichten im Grunde vor ansonsten semirealistischen Kriminalhintergründen aufzeigen, dass der Mensch das größte Monster ist und fiktive Schrecken oder gar Besuche aus anderen Dimensionen gar nicht benötigt werden. Unabhängig von der ungewöhnlichen Plot Prämisse schließt sich ein Kreis zu „Lebendig“, denn Ketchum beschreibt die Katzen als treue Wegbegleiter, die wertvoller als die meisten Menschen sind und die trotz ihrer individuellen Dickköpfe Gutes und Schlechtes unterscheiden können. Beide Kurzgeschichten sind vor allem durch die Dialoge getrieben solide geschrieben, steuern die individuellen Pointen mit unterschiedlicher Effektivität an und verzichten auf ausführliche wie indirekte Charakterbeschreibungen. Wie in seinen längeren Texten muss sich das Bild im Kopf des Lesers formen und schließlich auch dort vervollständigen.   

Durch die etwas schwächere Novelle – wer Ketchum nicht kennt, wird immer noch ausreichend provoziert – ist „Lebendig“ eine Sammlung, die nicht gänzlich zufriedenstellt. Es ist schön, dass die nicht selten in kleineren in den USA veröffentlichten seltenen Arbeiten einem breiteren Publikum vorgestellt werden, aber sie zeigen auch, dass der erfolgreiche Schriftsteller stellenweise die Provokation vor den Inhalt gestellt hat und damit insbesondere bei „Lebendig“ unendlich viel Potential verschenkt.    

  • Taschenbuch: 224 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag (12. Mai 2014)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3453676580
  • ISBN-13: 978-3453676589
  • Originaltitel: Right to Life
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