Musica Fantastica

Jörg Weigand

Die kleine Sammlung fasst zweiundzwanzig vorher schon mit einem Schwerpunkt bei den „Phantastischen Miniaturen“ der Phantastischen Bibliothek Wetzlars veröffentlichten Texten zusammen, in denen Musik eine mehr oder minder wichtige Rolle spielt. Sowohl bei den Nachdrucken aus Anthologien wie den angesprochenen Miniaturen handelt es sich um thematische Arbeiten, so dass Jörg Weigand manchmal literarisch gezwungen war, sich dem Oberbegriff, der Oberidee unterzuordnen. Inhaltlich reicht die Bandbreite vom subtilen Horror oder besser Grusel bis zur Science Fiction.

 „Der Gesang der schwarzen Kiefern“ beeinflusst ein junges Mädchen. Sie verbringt mehr und mehr Zeit in den endlos wirkenden Wäldern. Die Pointe ist keine Überraschung. In dieser Miniatur kommt keine Spannung auf, Jörg Weigands distanzierte Erzählart wirkt eher kontraproduktiv und leider gehört die Auftaktgeschichte zu den schwächsten Arbeiten dieser Sammlung.

 Deutlich besser ist „Das sensible Klavier“. Ein älterer Herr betritt erschöpft die Lobby eines Hotels. Er erzählt seine Geschichte und ahnt nicht, wie sehr dieser Ort und das besondere Klavier in einem engen Zusammenhang mit einem persönlichen Schicksal steht. Deutlich stimmungsvoller und spannender ist „Das sensible Klavier“ nur eine von mehreren Texten, in denen die Instrumente unerklärlich die Initiative übernehmen. „Die Glocken von Beuel“ erzählen in distanzierter Berichtsform vom einem ähnlichen Phänomen, allerdings wird hier an eine besondere Persönlichkeit erinnert, die in Beuel geboren worden ist.

 Eine der längeren Geschichten ist „Das hungrige Klavier“ um einen exzentrischen Pianisten und sein Instrument, der während einer der seltenen Zugaben an seinem Instrument auf der Bühne stirbt. Ein Polizist und sein Freund – ein Arzt – machen sich direkt auf der Bühne daran, die seltsamen Umstände dieses Todes zu untersuchen. Die Pointe spiegelt sich im Titel wieder. Trotzdem handelt es sich um einen originellen, bizarren „Fall“, dessen Hintergründe in einem bestimmten Buch bzw. im Grunde einer ganzen Region zu finden sind.

 Die Gnurks gehören im Rahmen der phantastischen Miniaturen zu den populärsten Schöpfungen. Zwei dieser kleinen Hefte sind ihnen bislang gewidmet. „Auftaktstation“ – der Titel ist Programm – führt für Jörg Weigand diese seltsamen Außerirdischen ein. Die Miniatur steuert direkt auf die Pointe zu, die Dialoge sind allerdings pointiert geschrieben. In „Unerwartete Helfer“ ahnt der Leser angesichts des Grundthemas dieser Anthologie auch schnell die Pointe, aber ein wenig kitschig, traurig und doch optimistisch sind es die Gnurks, die einen der Menschheit – bis auf seine Freundin – unbekannten Dichter wieder ins Licht der Öffentlichkeit rücken. In ein Licht, in dem er selbst zu Lebzeiten niemals stehen wollte.

 Auch in „Das Original“ geht es um Melodien, die zufällig aufgefangen und aufgezeichnet worden sind. Das Raumschiff Esperanza verspätet sich, so dass die Besatzung Weihnachten mit der Erkundung eines erdähnlichen Planeten verbringen muss. Aber Weihnachten ist selbst in den Tiefen des Alls nicht wirklich fern.

 Auch Jörg Weigands Meister Li muss in einer der ersten Miniaturen mit einem sprechenden Fisch Kontakt aufnehmen. Jörg Weigand hat im Laufe der Jahre einige Geschichten um den liebenswert exzentrischen Meister Li geschrieben. Die Begegnung in dieser Story „Das Lied des Wassers“ mit einem Tonka ist dem grundlegenden Thema der entsprechenden Phantastischen Miniatur um die „Tonkas“ geschuldet. Dieser Bogenschlag wirkt ein wenig bemüht. 

„Hausrecht oder Wer eine Fuchsfrau stört“ fasst den Inhalt der Miniatur gut zusammen. Ein Freund Meister Lis ist in eine neue Behausung gezogen und scheint eine ihm unbekannte Untermieterin mit seiner Musik zu stören. Natürlich hat der Meister eine pragmatische Lösung zur Hand. In der dritten Meister Li Geschichte „Auch ein Leben im Paradies“ widerspricht einer  der Schüler seinem Meister, dass es zwei Paradiese gibt. Meister Li versetzt den Ungehorsamen mittels einer Mixtur in diese beiden Paradiese. Natürlich ist er bei seiner Rückkehr bekehrt. Die Meister Li Miniaturen dieser Sammlung mit ihrer zugänglichen Mischung aus asiatischen Weisheiten und einem bodenständigen Meister Li gehören nicht zu den besten Arbeiten Jörg Weigand. In „Die Welten des Jörg Weigand“ und einigen Miniaturen der Phantastischen Bibliothek finden sich noch mehr pointierte Texte, in denen Jörg Weigand auch aktuelle Themen mit den ewigen Weisheiten seiner Gelehrten verbunden hat. Aber sie lockern mit ihrer im positiven Sinne simplen Struktur die teilweise dunklen Geschichten dieser Sammlung auch auf. 

 „Bericht und Empfehlung“ beschreibt wieder in Berichtsform die Schizophrenie der Menschen. Auf der einen Seite kreative Geister, die wunderschöne Musik erschaffen können, auf der anderen Seite barbarisch kriegerisch. Dieser Widerspruch kann einen außerirdischen Beobachter am Ende seiner Mission überfordern. Auch „Die Sprache der Musik“ geht auf die Missverständnisse hinsichtlich eines ersten Kontakts zwischen Menschen und Fremden ein. Hier zeigt sich pointiert Jörg Weigands umfangreiches musikalisches Wissen, in dem er seine Menschen das Falsche zum eigentlich geschichtlich historischen besten Zeitpunkt spielen lässt. „Orange Sensation scheint diese Thematik auf die Spitze zu treiben. Hier ist der Text zu kurz, um eine schlagfertige Pointe zu entwickeln.

 „Angekommen“ ist eine Hommage an die Bildwelten Rainer Schorm. Mit John Campbells Überhelden Aarn Munro jr. aus „Der unglaubliche Planet“ verfügt Jörg Weigand über einen markanten, charismatisch narzisstischen Protagonisten, der nach einer langen Reise wieder zurück auf die Erde kommt und doch nicht – wie der Titel impliziert – angekommen ist. Seinen Frieden findet er erst in einer besonderen Form der Existenz. Der Leser kann deren Aspekte nachvollziehen, allerdings entspricht diese Art der Passivität nicht dem Helden, den John Campbell in seinem im Genre bekannten, aber auch inzwischen aus der Zeit gefallenen Epos entwickelt hat.

 Auch in „Die Melodie“ geht es um eine Art Heimkehr. Ein Astronaut gilt mit seinem Raumschiff als verschollen. Überraschend kehrt er zurück und hinterlässt der Menschheit ein Stück, das er in der Einsamkeit an Bord seines Raumschiffs komponiert hat.

 In „Sonnensegel“ – eine der Miniaturen, die inzwischen hinsichtlich der Nachdrucke zu den bekanntesten Geschichten Jörg Weigands gehört – haben zwei Astronauten eine Panne und begegnen dem im Titel erwähnten Sonnensegel einer längst untergegangenen außerirdischen Zivilisation. Melancholisch, poetisch und zeitlos ist diese Miniatur. Weiterhin gehört sie zu den besten Kurzgeschichten des Autoren, auch wenn er sich erzählerisch in den Jahren weiterentwickelt hat und seine Charaktere besser ausmodelliert.

 Auch in „Träumen ist Leben“ – der zweiten längeren Geschichte dieser Sammlung – wird im All etwas gefunden. Ein Luxusraumschiff auf Kreuzfahrt findet ein Wrack, treibend im All. Die bunt gemischten Passagiere drängen auf einer Untersuchung des im All treibenden Raumschiffs und finden Erstaunliches. Bei dieser Geschichte steht nicht die Musik im Mittelpunkt, aber Jörg Weigand hat ein feines Gespür, eine bunt gemischte Gruppe von Charakteren zu entwickeln, die förmlich auf dieser Reise nach Abenteuern lechzen. Der Kapitän kann sie kaum unter Kontrolle halten. Der Spannungsaufbau ist gut, die Pointe überzeugend. Alleine ein kleiner Einschub lenkt den Leser von der ansonsten geradlinigen Story unnötig ab. 

 „Das Lied der Freiheit“ verbindet Kunst und Musik. Der Protagonist ist einer der besten Kopisten der Welt, aber kein eigenständiger Künstler. Frustriert komponiert er eine Hymne an die metaphorische Freiheit und erhält den Auftrag, das Bild „Die Gärten der Hieronymus“ zu kopieren. Dabei findet er seine persönliche Freiheit. Die Pointe ist spätestens mit der entsprechenden Beauftragung zu erkennen, aber der surrealistische Text reiht sich in eine Reihe vergleichbarer Arbeiten anderer Autoren ein, in denen ihre von der Welt isolierten Protagonisten ihre persönlichen Paradies abseits der Realität in der Kunst gefunden haben.

 In „Special Effect“ versucht ein Multimilliardär in seiner Spielzeug Raumstation – die beherbergt seine umfangreiche Sammlung von Kunst und Musikinstrumenten – ausgerechnet als Übung das Stück „Ode an die Freude“ zu verdichten. Der Leser ahnt die bitterböse Pointe, auch wenn Jörg Weigand keine zufrieden stellende Erklärung anbietet.

 „Farbenspiel“ ist eine Hommage an die Beatles und eine originelle Umsetzung deren Lieder in Farbenspiele. Der Protagonist kann mit den Beatles nicht wirklich viel anfangen, bis ihm ein Freund eine neue Art der Interpretation zeigt. Die erste Begegnung mit den Farbenspielen wirkt ein wenig konstruiert. Es erscheint nicht glaubhaft, das in einem Club nur die Farben auf die Decke projektiert werden, aber die Idee einer gänzlich neuen Sichtweise auf die bekannten Lieder hält nicht nur den Protagonisten bei der Stange.   

 Zu den eher der Fantasy zugeneigten Texte gehört „In Stellvertretung“. Die Protagonisten hat eine schöne Stimme, aber ein befremdliches Aussehen. Eine Elfe kann helfen. Die Grundidee ist nicht besonders neu, die Umsetzung der Geschichte auch aufgrund der Kürze des Inhalts so glatt, aber generell unterstreicht Jörg Weigand, das echte Musik keine Vorurteile kennen sollte. In dieser Hinsicht reiht sich „In Stellvertretung“ in eine kleine, aber gewichtige Gruppe ähnlich gelagerter Geschichten dieser Anthologie nahtlos ein.

 Die letzte Geschichte dieser Sammlung „Die Bitte der Cylianer“ ist wahrscheinlich eine der frühesten Arbeiten Jörg Weigands. Während der Zeit in Paris geschrieben und von der Zeitschrift Bravo abgelehnt, erschien sie schließlich auf den Leserbriefseiten von Ren Dhark. In allen drei Auflagen. Die Cylianer besuchen die Erde. Die Kommunikation ist dank der langjährigen Studien von Radio und Fernsehsendungen durch die Außerirdischen relativ einfach. Deren abschließende Bitte hat es allerdings in sich.

 “Musica Fantastica“ kann gut mit seinen insgesamt zweiundzwanzig utopisch- phantastischen Miniaturen als Einstieg in Jörg Weigands Werk dienen, der rote Faden der Musik dient eher als lockere Klammer. Jörg Weigand ist ein Pointenautor, ein Arbeiter am Wort, der relativ stringent auf das Ziel seiner Geschichte zusteuert und nicht selten Form/ Inhalt über Äußerlichkeiten stellt. Dadurch wirken seine Texte manchmal ein wenig distanziert, die Zeichnung seiner Protagonisten eher pragmatisch und untergeordnet. Die Stärke seiner Geschichten liegt in der Pointe, im finalen Schlag mit dem metaphorischen wie literarischen Hammer, an den sich die Leser erinnern sollen. In dieser Hinsicht überzeugen alle hier gesammelten Texte und bieten kurzweilige Unterhaltung.     

Jörg Weigand
MUSICA FANTASTICA
Zweiundzwanzig utopisch-fantastische Erzählungen
AndroSF 166
p.machinery, Winnert, Oktober 2023, 96 Seiten, Paperback
ISBN 978 3 95765 319 2 – EUR 12,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 95765 785 5 – EUR 4,49 (DE