Wylding Hall

Elizabeth Hand

Der Wandler Verlag legt mit dem Kurzroman „Wylding Hall“ eine der seltenen Genrekombinationen aus populärer Musik und Horror zum ersten Mal zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung auf deutsch vor. Der Meilenstein dieses verführerischen Subgenres ist weiterhin George R.R. Martins „Armageddon Rock“, wobei neben Lewis Shiners „Glimmer“ Elizabeth Hands auch auf eine interessante Art und Weise erzählte Geschichte sehr nahe an Martins Roman um die Wiederauferstehung einer legendären Rockband; die Suche nach der eigenen verlorenen Jugend und schließlich die Faszination des Sommers der Liebe heranreicht. Bei ihr geht es um eine kurzzeitig populäre, dann durch Veränderungen des populären Geschmacks vergessene und jetzt quasi wiederentdeckte Band.

Elizabeth Hand gehört mit zahlreichen Auszeichnungen wie mehreren World Fantasy Awards, zwei Nebulas und schließlich auch dem Shirley Jackson Award für „Generation Loss“ zu den besten Autoren des Genres, die sich allerdings in Deutschland bis auf einige kürzere Texte, den Roman „Die Mondgöttin erwacht“ und schließlich zwei Thriller bei Bastei neben zahlreichen Filmadaptionen nicht durchsetzen konnte.

Elizabeth Hand ist aber auch eine mutige Frau, wie ihre umstrittene, auch in Deutschland publizierte Fortsetzung zu Shirley Jackson zweimal verfilmten „The Haunting“ bewies: „A Haunting on the Hill“.

Auffällig ist die erzählerische Struktur des vorliegenden Romans. Alle handelnden Protagonisten werden gleich zu Beginn kurz vorgestellt, ihre Position in der Band, deren  Umfeld bzw. im Umland des alten englischen Hauses „Wylding Hill“ erklärt. Das wirkt auf den ersten Blick für eine Geistergeschichte seltsam, ist aber der Struktur geschuldet.

Die eigentlichen Ereignisse spielen in den frühen siebziger Jahren. Zwei in Musikmagazinen publizierte und hier nachgedruckte Artikel grenzen den Zeitraum gut ein. Aber die Protagonisten sprechen aus einer Distanz von fast vierzig oder fünfzig Jahren mit den Lesern. Das Buch ist eine Art Mosaikroman, zusammengefügt aus den an ein Interview erinnernden Erzählungen der einzelnen Protagonisten. Wie sich herausstellt, natürlich nicht aller Protagonisten. Dadurch wirken die Figuren reifer als die Hippies, mit denen sie bei der Landbevölkerung für Aufsehen sorgten. Sie gehören ihr “freies” Leben mit Sex- zu wenig -, Alkohol- teuer - und Drogen - irgendjemand hatte immer die leichteren Sachen dabei - auch gereifter betrachten, teilweise ironisch kommentieren und ihre eigenen charakterlichen Schwächen im fortlaufenden Reifeprozess relativieren. Nur als jugendliche Inkarnationen wäre die Identifikation für den Leser mit den allerdings dreidimensional entwickelten Figuren deutlich schwieriger geworden. 

Mit dieser Vorgehensweise zieht Elizabeth Hand die Leser nicht nur durch in ihren Bann. Vor allem können die Erzähler dem Leser immer wieder berichtigen, dass dieser einzigartige wie schreckliche Sommer in dem mehr und mehr verfallenden Landhaus schrecklich endete. Der Leser ist- wie bei einer guten Horrorgeschichte – gewarnt und kann durch die Distanz zwischen Erzählung und Rahmen mitten im Geschehen sein und trotzdem außen vor. Vor allem hebt Elizabeth Hand damit den übergeordneten Erzähler auf und wie bei den subjektiven pseudodokumentarischen Horrorfilmen wie „The Blair Witch Project“  wie dadurch Authentizität geheuchelt. Allerdings wird in „Wylding Hall“ kein zurückgelassenes Filmmaterial präsentiert, sondern bis auf einen im Epilog angesprochenen Fund und die seltsamen Fotos gibt es keinen echten Beweis, das die Geschehnisse wirklich so stattgefunden haben.

Auch wenn die Geschichte überwiegend chronologisch erzählt wird, springen die einzelnen Protagonisten in der Zeit, hinsichtlich ihrer persönlichen Erlebnisse bis in die Gegenwart hin und her. Das bezieht sich eher auf persönliche Anmerkungen wie die Krebserkrankung eines Bandmitglieds; die vergangene Zeit oder schließlich auch die oft Jahre, in denen die Bandmitglieder nicht miteinander geschrieben oder telefoniert haben. Aber diese kleinen Anmerkungen reißen den Leser nicht aus der faszinierenden Geschichte. Verstärkt wird der potentielle Eindruck von Authentizität, indem einzelne rote Fäden von den alternierenden Erzählern immer wieder aufgenommen und teilweise auch ergänzt werden. Es ist selten, dass eine Information von einem der Ich- Erzähler zum Nächsten minimiert wird.

   Der Manager einer noch am Beginn ihrer Karriere stehenden Folk- Rock Gruppe kommt auf die Idee, zwecks Schreiben und Einstudieren eines zweiten Albums die Band in dem abgelegenen „Wylding Hall“ unterzubringen. Einem eher heruntergekommenen Landhaus. Versorgt werden sie von einem örtlichen Bauern und dessen Sohn. Die Bandmitglieder erhalten ein wenig Geld, sollen sich aber in erster Linie auf sich selbst und die Musik konzentrieren.  Sie sollen sich auch vom Selbstmord der bisherigen Sängerin erholen. Die neue Sängerin ist eine Amerikanerin, in der Theorie ein Fremdkörper. Wäre sie nicht so attraktiv.

Trotz der Kürze der Geschichte nimmt sich Elizabeth Hand nicht nur die Zeit und den Raum, die dunkle, morbide Atmosphäre des Hauses als Kontrast zu den überwiegend euphorischen Bandmitgliedern mit ihrem Hang zu Alkohol und leichten Drogen zu entwickeln, sondern deutet lange Zeit nur unheimliche Ereignisse an. Wie in jeder guten Horrorgeschichte ist das Haus ein wichtiger Bestandteil des Settings, ein weiterer Protagonist. Allerdings folgt die Autorin nicht gänzlich der Shirley Jackson Tradition und belebt das Haus. Es ist vielleicht verwunschen, vielleicht auch ein wenig verflucht, aber es ist ein Labyrinth aus zahlreichen Zimmern wie zum Beispiel der Bibliothek mit noch vorhandenen alten Büchern, den eher dem Verfall übergebenen Seitenflügeln und vor allem dem Zugang zum dunklen Wald und einem Hügel, der wie magisch die Perspektiven verzerrt. Diese Idee wirkt rückblickend wie ein kleiner Fremdkörper in der Geschichte, da Elizabeth Hand sich ansonsten auf das intime Zusammenleben der Band; ihre Begeisterung für die Musik und schließlich deren Einfluss auf die Geisterwelt konzentriert. Wie in Robert Wises Verfilmung von „The Haunting“ im Gegensatz zum Remake ist es ein schmaler Grat, was zu präsentieren ist und was sich ausschließlich in den Gedanken der Leser bzw. in dieser Novelle der Vorstellung der beteiligten Bandmitglieder manifestiert.  Kaum ist der Hintergrund der Geschichte, das heruntergekommene Anwesen charakterisiert, konzentriert sich Elizabeth Hand auf die einzelnen Protagonisten.

Zynisch gesprochen weiß der Leser durch ein genaues Betrachten der Sprechrollen, wer „überlebt“. Damit wird der Geschichte nicht die Spannung genommen, weil vieles nach diesen Monaten weiterhin bis in die Gegenwart vage bleibt. Auch eine später hinzugezogene Reporterin – ihre beiden Artikel werden in „Wylding Hall“ nachgedruckt – kann das Geschehen aus ihrer objektiven Außenseiter Perspektive nicht wirklich einordnen.      

Sowohl George R.R. Martin als auch Elizabeth Hand stellen einen charismatischen Leadsänger, der außerhalb der Bühne unabhängig von seinem Talent schüchtern ist, in den Mittelpunkt ihrer Handlung. Bei George R.R. Martin erschafft der perfide Manager durch Operationen eine Art Klon, welcher in die Rolle schlüpfen soll. Der ursprüngliche Sänger ist Ende der sechziger Jahre auf der Bühne erschossen worden. Je länger die Band, desto mehr hat der als Journalist sie begleitende Erzähler das perfide Gefühl, als würde der junge Mann vom Original quasi aus dem Jenseits übernommen.

Bei Elizabeth Hand ist es das Haus, die ganze morbide Atmosphäre und schließlich auch ein Mädchen, die den Sänger Julian verführen. Alle Elemente entführen ihn schließlich aus seiner Realität, obwohl er vorher schon mit dem Hang zum Übernatürlichen, zur Esoterik, aber auch durch die nächtlichen Spaziergänge durch die dichten Wälder den Weg geöffnet hat. Martins Buch lebt von der Veränderung des Protagonisten, das von dem ungläubigen Erzähler beschrieben wird. Bis sich Geschichte zu wiederholen droht. Mit ungeahnten Konsequenzen.

Elizabeth Hands Geschichte ist deutlich intimer.  Sie lebt von der Liebe zur Musik, der Affinität für die Ewigkeit – ausgedrückt durch die besondere Uhr an Julians Handgelenk – und schließlich der Suche nach alten Gedichten/ Texten ausgedrückt, welche mit ihrer Musik zu einem neuen Leben erwachen. Julian ist durch den Freitod der bisherigen Sängerin – ausgerechnet aus dem Fenster seiner Wohnung – schwer angeschlagen und vielleicht deswegen ein leichteres Opfer. Aber dieser Begriff ist auch relativ, denn anscheinend ist Julian nicht nur Opfer oder Täter, sondern von Beginn an in einer seltsamen Zwischenwelt gefangen.  Nicht umsonst denkt er, dass es zwei Welten gibt. Die Realität und die spirituelle Umgebung, die mittels Mediation, religiös- heidnischen Ritualen und schließlich der Musik erreicht werden kann. Durch die Distanz zwischen der Handlungs- und Erzählebene lässt Elizabeth Hand an keiner Stelle Zweifel aufkommen, dass Julians Überzeugungen nicht verrückt sind. Immerhin hat er anscheinend für sich eine Art Übergang geschafft. Interessant ist, das Julian ein wenig an einen Charakter aus Elizabeth Hands Kurzgeschichte „The Erl King“ erinnert, in welcher ebenfalls Musik, Magie und schließlich soziale Außenseiter zu finden sind.

Eine kurze Zeit hat er eine Affäre mit der neuen Leadsängerin Lesley, welche nach deren Ende auch wie eine Mutter auf ihn aufpasst. Lesley ist es schließlich, welche mit der Polizei und der Information des Managers die kleine Idylle zum Einsturz bringt. Lesley ist es auch, die auf die Idee kommt, in dem nahegelegenen Pub für einen herumgereichten Hut zu spielen und damit auch den eigenen Manager zu erzürnen. Auch wenn Lesley nicht älter als die anderen Bandmitglieder ist und sich als Amerikanerin im britischen Hinterland wie der berühmte Fisch außerhalb des Wassers fühlen muss, ist sie die zugänglichste Figur, welcher der Leser ein glückliches Leben wünscht. Auf eine andere Art und Weise findet sie schließlich auch inneren Frieden und vor allem Erfolg neben einer langen Partnerschaft.

Der Manager Tom ist die dritte wirklich herausragende Gestalt dieser Geschichte. Ihm geht es nicht nur ums Geld. Er gibt der Band einen Vorschuss, er mietet sie für den Sommer in dem alten Haus ein, damit sie mit ihrer neuen, zweiten Platte durchstarten können. Er ist Mutter, Vater, Erzieher zugleich. Er ist noch nicht so alt, dass er die Leichtigkeit des Seins gänzlich hinter sich gelassen hat, aber gleichzeitig setzt er seine eigene Existenz aufs Spiel.

Elizabeth Hand erschafft mit den anderen Bandmitgliedern trotzdem dreidimensionale Nebenfiguren wie dem noch vor einem Coming Out stehenden Jonathan ; dem begabten William – in den siebziger Jahren hat er eine Freundin Nancy, die für das Übernatürliche empfänglich ist, obwohl er Lesley begeht; in der Gegenwart ist die Grundkonstellation seiner Beziehung anders und doch ausgesprochen stabil – oder den schon angesprochenen Sohn eines örtlichen Landwirts, der Fotograf werden will, aber als Immobilienmakler zurückkehrt.

Neben den zufällig bei einer aufgezeichneten Probe im Freien geschossenen Bildern – sie beinhalten schließlich eine Art finalen Beweise – ist es das fahrbare Tonstudio Toms,  das zusammen mit den Bildern diese Band künstlerisch am Leben halten wird.

Elizabeth Hand arbeitet gerne in dieser wunderschön geschriebenen und doch stellenweise grotesk wirkenden Novelle mit Kontrasten. Der künstlerische Höhepunkt geht in ein Phänomen über. Ganze Vogelschwärme verdunkeln die Sonne und lassen erahnen, dass sie in Gefahr sind.

An einer anderen Stelle findet Lesley in einem der Räume hunderte von toten Vögeln, die ihre Schnäbel verloren haben. Nancy hat das Gefühl, als wenn sie jemand auf ihrem Streifzug durchs Haus begleitet. Diese Szenen sind packend beschrieben, Elizabeth Hand hat die morbide bedrohliche Atmosphäre im Griff, ohne allerdings sich auf Klischees zu verlassen. Es ist ein stellenweise verstörendes, aber niemals spukiges Buch. Auch wenn Geister auftreten. Aber der Leser hat das Gefühl, als wenn Julian zumindest auf einen Geist wie der Rattenfänger von Hameln mit seiner Musik wirkt und sich dadurch die Tore öffnen, von denen der introvertierte Musiker immer geträumt hat. Sie befruchten sich gegenseitig, was für eine Horrorgeschichte ungewöhnlich, im vorliegenden Fall aber perfekt passend ist.

Es gibt keine Angriffe aus dem Dunkeln. Kein klassisches Erschrecken und das Ende der Band sowie der Geschichte kommt fast aus dem Nichts. Es dauert erst Tage, Wochen, bis sich das ganze Szenario offenbart und schließlich Jahre, bis eine allerdings unerklärliche Wendung eintritt. Horrorfans könnten angesichts der fehlenden Dynamik im letzten Viertel des Buches enttäuscht sein. Wie die ganzen Interviews eine Geschichte bilden, müssen die Puzzlestücke gegen alle Logik am Ende zusammengesetzt werden, damit  das Gesamtbild weit über das alte Gebäude hinaus erkennbar ist.    

Bei den meisten „Haunted House“ Geschichten rückt das verfluchte Gebäude mehr und mehr in den Vordergrund, beginnt die Protagonisten förmlich zu unterdrücken. „Wylding Hall“ geht fast den anderen Weg. Die schicksalhafte Begegnung findet in einem Pub und nicht in den vielen leeren Zimmern steht. Das Haus wird immer unwichtiger und könnte auch nur zum Tor in eine andere, aber nicht unbedingt deswegen paradiesische Welt sein.  

Die Aufklärung erfolgt lange Zeit nicht direkt am Ort des Geschehens, sondern im neutralen, fast freundlichen London. Erst im Epilog kehrt das Geschehen an den Ort zurück, auch wenn die Protagonisten – im Off allerdings – Angst haben, nach mehr als vierzig Jahren als gereifte Menschen dorthin zurückzukommen.

Natürlich bleiben für rational denkende Leser viele, vielleicht zu viele Fragen offen. Elizabeth Hand will nicht alles erläutern, sondern konzentriert sich auf Stimmungen. Einige Szenen wie die fast ein halbes Jahr nach den Ereignissen entwickelten Bilder lassen den Leser genau wie die toten Vögel erstarren. Hier schleicht sich eine morbide, bedrohliche Atmosphäre in die Geschichte. Aber diese Sequenzen stehen in einem starken Kontrast zu den wenigen glücklichen Momenten der Band, als sie basierend auf den alten Sagen/ Legenden frei von jedem kommerziellen Zwang ihre insgesamt nur neun Lieder ihrem Manager Tom in freier Natur präsentieren konnte. Es ist der vorletzte glückliche Moment in dieser Geschichte.

Die größte Stärken dieser gut erzählten und von Michael Plogmann auch einfühlsam übersetzten Geschichte sind allerdings die lebendig in ihrer Zeit – sowohl in den siebziger Jahren wie auch im 21. Jahrhundert – etablierten Charaktere; das Flair der experimentellen siebziger Jahre; das Einführen einer Band in der Vorinternetzeit mit der besonderen Bedeutung von Plattencovern und der Macht der Radiosender bis zum Nahebringen dieser Musik, welche der Leser fast hören kann und dann als Kontrast die heidnischen Riten der Ureinwohner. Wie sehr die Geschichte in ihrer Zeit etabliert ist, zeigt auch der Hinweis auf den nur ein Jahr nach dem Sommer von Wylding Hall entstandenen, lange Zeit umstrittenen Streifen „The Wicker Man“, der Elemente des Krimis mit dem Folk Horror verbunden hat.

„Wylding Hall“ ist für die psychedelische Folk- Musik das, was „The Wicker Man“ für das britische Horrorfilmgenre gewesen ist: ein fast perfektes Meisterwerk, das den Leser an der Seite der fast willenlos in das Geschehen hineingezogenen Protagonisten in einer ruhigen, getragen erzählten, aber atmosphärisch stimmigen Art in seinen Bann zieht und weit über die Lektüre gefangen hält.    

Wylding Hall

  • Herausgeber ‏ : ‎ Wandler Verlag
  • Erscheinungstermin ‏ : ‎ 30. Juni 2025
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe ‏ : ‎ 194 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3948825238
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3948825232
  • Originaltitel ‏ : ‎ Wylding Hall
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