Der Schatten über Innsmouth

H.P. Lovecraft & Francois Baranger

Neben den „Berge des Wahnsinns“ ist wahrscheinlich kaum eine andere Geschichte besser geeignet, um als Comic adaptiert zu werden wie „Der Schatten über Innsmouth“.  Der Heyne Verlag legt die ursprünglich zwischen November und Dezember 1931 publizierte Novelle begleitet von den Zeichnungen Francois Baranger als weiterer hochwertiger wie hochformatiger Hardcover auf. Alleine das Durchblättern der Seiten unterstreicht die morbide Atmosphäre der zum „Cthulhu Mythos“ gehörenden Geschichte. Die Novelle ist das einzige Lovecraft Werk, das noch zu Lebzeiten des Autoren in Buchform veröffentlicht worden ist.

 Ob sich Baranger als Lovecrafts Vorbild – die Stadt Newburyport, Massachusetts – orientiert hat, ist nicht überliefert. Lovecraft besuchte die Gemeinde zweimal.  Einmal 1923 und dann 1931, bevor er mit der Arbeit an der Geschichte begonnen hat.  Er fügte mit Innsmouth eine fiktive Stadt inklusive der entsprechenden Busroute von Newburyport als einzigem realen Ort nach der ebenfalls erdachten Stadt Arkham einfach der Karte hinzu.  Innsmouth wird noch in einer frühen Kurzgeschichte „Celephais“ allerdings als Ort in England erwähnt. Im postum veröffentlichten Roman „“The Thing on the Doorstep“ beschreibt die Stadt noch einmal ausführlich. Neben August Derleth als Nachlassverwalter ließen Basil Cooper, Wolfgang Hohlbein und Neil Gaiman Geschichte in der kleinen Gemeinde spielen.

Neben dem Besuch in der kleinen  realen Hafenstadt könnten Robert W. Chambers Kurzgeschichte „The Harbor- Master“,  H.G. Wells „In the Abyss“ und schließlich auch Irvin S. Cobbs „Fishead“ beeinflusst haben.  In Briefen an Frank Belknap Long äußerte sich der Amerikaner euphorisch über zwei der drei hier genannten Werke, während die Seekreatur Ähnlichkeiten zu Wells Geschichte aufweist.

Wie für Lovecraft typisch, besteht der Hauptteil der Geschichte aus zurückliegenden Ereignissen, die subjektiv wiedergegeben werden. Untypisch für Lovecraft ist, dass es sich um kein Sekundärmaterial handelt, sondern der Erzähler gleichzeitig auch der direkt Beteiligte ist. Er versucht vor den Augen der imaginären Öffentlichkeit, die bekannten Ereignisse in das richtige Licht zu rücken.

  Bei der Einleitung erfährt der Leser von den behördlichen Untersuchungen in der Stadt, von den Verhaftungen zahlreicher Einwohner mit einer Internierung in an Konzentration Lager erinnernde Gefängnisse und einem U Boot, das anscheinend das einige Meilen vor der Stadt liegende Teufelsriff torpediert hat.  In den Zeitungen spekulierten die Journalisten von einem Schlag gegen Alkoholschmuggler.

Da sich der Ich- Erzähler direkt an die Leser wendet und als Person auftritt,  wird er die jetzt in Rückblenden erzählten Ereignisse überleben.  Wie Lovecraft wollte der junge Mann als Student von Ohio kommend die Neu England Küste bereisen. In Newburyport wird ihm von dem geheimnisvollen Innsmouth erzählt, durch das der deutlich billigere Bus fährt. Lovecraft selbst ist bei seinen Reisen immer knapp bei Kasse gewesen und hat das Geld lieber für Bücher, aber auch Karten aus der jeweiligen Region ausgegeben. An Essen, Unterkunft und Fortbewegungsmitteln hat er meistens gespart. Wie sein Protagonist.

Während er auf den Bus in Newburyport wartet, macht sich der Erzähler stellvertretend für den Leser über die kleine Gemeinde schlau, die schon lange nicht mehr vom Import von Waren oder dem Schiffbau lebt. Obed Marsh hat anscheinend aus unerklärlichen Quellen Gold verfeinert und verkauft.  Obed Marsh hat auch einen heidnischen Kult gegründet – den Orden von Dagon -, welcher die bestimmte Religion in der kleinen Siedlung wurde. Fremde meiden meistens die Stadt; deren Bewohner sind in den umliegenden Gemeinden auch nicht gerne gesehen.

Auch wenn Lovecraft ein atmosphärisch stimmiger Erzähler ist, kann er nicht die Brillanz der gemalten Bilder erreichen, mit denen Baranger den Leser aus der Vogelperspektive nach Innsmouth einlädt. Es sind atemberaubend schöne Bilder, welche noch nicht den kommenden Schrecken widerspiegeln. Alleine wegen dieser doppelseitigen Gemälde- anders kann man die Bilder nicht beschreiben – lohnt sich die Anschaffung dieser Ausgabe.

In Innsmouth hilft ihm ein junger Angestellter des einzigen Supermarktes. Er malt ihm eine Karte und gibt ihm einen Hinweis, dass einer der alten Männer gegen Alkohol mehr über die geheime Geschichte der Stadt erzählen kann. Kaum hat er von dem seltsamen Handel, von den Menschenopfern auf den Karolineninseln gehört, will er die Stadt umgehend verlassen.

Was heute wie ein Klischee klingt – der einzige Bus hat eine Motorpanne – wird von Lovecraft effektiv eingesetzt. Der Ich- Erzähler verbarrikadiert sich in seinem Hotelzimmer. Aber das ist keine Sicherheit vor den Gestalten, die sich nachts durch die Straßen schleichen und in das Hotel eindringen. Ein typisches Horror Element, das in den dreißiger Jahren genauso verbreitet gewesen ist wie es heute noch gerne genommen wird.

In der Geschichte spiegeln sich zwei Urängste Lovecrafts wieder, auch wenn er wahrscheinlich den agilen Stunden als eine Art Alter Ego von sich gesehen hat. Auf den ersten Blick handelt die Geschichte von einer Siedler voller Menschen/ Halbwesen, die einem körperlichen Verfall und durch die nicht immer freiwillige Paarung mit den amphibienähnlichen Wesen auch den entsprechenden Mutationen ausgesetzt sind, Im Gleichschritt setzt sich Lovecraft wahrscheinlich aufgrund des frühen Todes seiner Eltern auch mit der Angst vor geistigem Verfall und zwischen den Zeilen auch Wahnsinn auseinander. In keiner seiner anderen Geschichten hat er diese beiden Urängste derartig paranoid auf die Spitze getrieben und trotzdem eine erzählerisch klassisch stringente Linie bewahrt.

Im ersten Drittel nach der Einführung des Erzählers bestimmt Lovecraft die Atmosphäre. Auch wenn die Beschreibungen einer immer mehr verfallenden Stadt, seinen fehlenden Bewohnern und der feuchten, klammen Luft alles überdecken, wirken einzelne Abschnitte auch ein wenig überspannt. Der Hinweis auf die hervorstechenden, wässrig wirkenden Augen der wenigen Bewohner, denen der Ich- Erzähler auf seinen Exkursionen durch die engen Straßen der Stadt und in die „verbotenen“ Viertel begegnet, weisen schon den Weg. In dieser Hinsicht wirken die gemäldeartigen Illustrationen deutlich überzeugender, da sie sich bei den Charakteren auf die wenigen echten Menschen in der Stadt konzentrieren. Ansonsten dominieren Halbperspektiven, so dass der sich später aus dem Nichts zeigende Schrecken vor den Augen der Betrachter verborgen bleibt. Natürlich ist es für einen Ich- Erzähler schwierig, sich an die literarischen Regeln zu halten. Schließlich erzählt er von seinen Erlebnissen und schreibt zumindest in der vorliegenden Form keinen Bericht oder keine Geschichte. Das ist ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zu einigen anderen Storys Lovecraft, in denen die Erzähler nach dem Rahmen auf ihren jeweiligen Suchen Schriften finden, aus denen sie quasi mit doppelter Distanz entsprechende Informationen ziehen. Bis die jeweilige Gefahr sie in der handlungstechnischen Gegenwart eingeholt hat.

Die Einsamkeit einer Stadt, deren Höhepunkt weiter hinter ihr liegt, die ihre Bewohner nicht nur an den Kult, sondern vor allem auch an die anderen Städte verloren hat und die in ihren letzten Zügen liegt, ist von Lovecraft so überzeugen beschrieben worden, dass Innsmouth wie ein eigenständiger Charakter erscheint.  Je mehr der Erzähler über Innsmouth erfährt, umso mehr wandelt er sich auch von einem neugierigen Skeptiker zu einem Fatalisten, der wie später in Filmen wie „The wicker Man“ zu einem unwilligen Opfer werden könnte. Diese Wandlung hebt Lovecraft erst relativ spät auf und zieht das bis weit über die Hälfte der Geschichte behäbige Tempo deutlich an.

Der Hafen, das Meer ermöglichen es Lovecraft, eine andere Atmosphäre in seine Geschichten einziehen zu lassen. Nicht mehr nach nasser Erde oder Schwamm riecht die Umgebung, in denen sich seine Figuren bewegen (müssen), sondern vergammelter Fisch.

Wie der Ich- Erzähler eine von Lovecraft am meisten lebendigen Figuren ist, so verfügt die Novelle am ehesten über einen stringenten Plot, der durch die Jahrzehnte allerdings von unzähligen Epigonen auf eine Aneinanderreihung von Klischees reduziert worden ist. Der Leser muss sich aber gedanklich in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts zurückversetzen und die Geschichte aus dieser Perspektive sehen. Die meisten Pulpgeschichten spielten entweder in fernen Ländern oder in der Vergangenheit. Autoren wie Arthur Machen – Lovecrafts großes Vorbild – nutzen das englische Hinterland, um Vergangenheit in Form von Mythen und die Gegenwart abseits aller Technik zusammenlaufen zu lassen. Das ist auch bei Lovecraft  der Fall. Auch wenn der Kapitän den Kult mit seinen Hybridwesen nach Amerika gebracht hat, spielt die Geschichte im Hier und Jetzt und vor allem in einer den meisten Lesern zumindest oberflächlich, wenn auch nicht unbedingt persönlich bekannten Gegend.       

Lovecraft bleibt hinsichtlich der Beweise in seinen Geschichten vage. Auch das unterscheidet die vorliegende Novelle von einigen seiner anderen Werke. Die Polizei und die Marine haben sich zwar bemüht, alle Spuren zu beseitigen, aber der Ich- Erzähler versichert dem Leser, dass er weiter suchen und weiter forschen wird. Über die abgeschlossene Rückblende hinaus. Damit fehlt der Geschichte der ominöse, düstere Ausblick auf eine dunkle Zukunft mit unter den neuen Göttern geknechteten Menschen. Damit soll nicht ausgedrückt werden, dass in „Der Schatten über Innsmouth“ der kleine Mensch über die großen alten Götter siegt, aber es besteht zumindest ein wenig mehr Hoffnung als in den anderen Storys.

Lovecraft als reinen Rassisten darzustellen, ist wahrscheinlich zu einfach. Er hat sich immer als einen aus der Zeit gefallenen Menschen angesehen, der im 19. Jahrhundert sich eher zu Hause fühlte. Die Grundidee ist, dass ein ganzes Dorf – nicht nur Innsmouth, sondern alle Siedlungen, welche sich der Göttern unterwerfen – ihren christlichen Glauben über Bord werfen; gegen Gold den Göttern am besten Jungfrauen opfern; mit ihnen umständlich beschrieben Sex haben und schließlich geistig wie körperlich degenerieren. Dunkle von der See gegerbte Hautfarbe, herausquellende Augen, ein gekrümmter Gang, mehr Kreatur als Mensch. Durch die Anbetung der fremden Götter, aber auch gleichzeitig durch die Abwendung von Gott sind diese Menschen degeneriert. Natürlich lässt sich das gleich rassistisch interpretieren, aber Lovecraft folgt auch der Bibel. Die Menschen, die sich von Gott abwenden und den heidnischen Göttern huldigen, werden auf die eine oder andere Art bestraft. Immerhin kann Lovecraft einen Menschen opfernden Kult auch nicht glorifizieren und strahlend schöne, kräftige junge Männer und Frauen wären nicht nur in dieser Hinsicht kontraproduktiv. Lovecraft deutet keinen Inzest zwischen den Bewohnern der kleinen Stadt an. Allein der Verkehr mit den Hybridwesen lässt Missgeburten entstehen. Das ist auf der einen Seite sachlich beschrieben, aber auf der anderen Seite sicherlich für einen Leser rassistisch. Aber Lovecraft ist zumindest in dieser Hinsicht konsequent. 

Vor allem, wenn der Amerikaner im langen Epilog darstellt, dass es wahrscheinlich nicht ein gänzlicher Zufall ist, welcher den Protagonisten nach Innsmouth gezogen hat. Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich Lovecraft hier bewegt. Der Schrecken von Innsmouth ist nicht ausgerottet, die unterseeischen Könige haben sich eher zurückgezogen als dass sie sich geschlagen geben. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder auftauchen. Und die Verbindung zwischen dem Protagonisten und den Bewohnern Innsmouth ist sehr viel enger als es auf den ersten Blick scheint. Damit reduziert Lovecraft allerdings auch die ambivalente Bedrohung, den allgemeingültigen potentiellen Schrecken wieder auf einen deutlich kleineren Kreis und lässt die Alpträume seines Protagonisten in einem noch anderen Licht erscheinen.  

Wie schon eingangs erwähnt, sind die Gemälde Francois Barangers eine Augenweide. Mit gedeckten melancholischen Farben, mit ungewöhnlichen Perspektiven und vor allem einem Respekt vor dem Text erweckt er Innsmouth zu seinem dekadenten Leben und untermalt die atmosphärisch wichtigen Passagen in Lovecrafts Geschichte eindrucksvoll. Text und Bilder bilden eine einzigartige Symbiose, ein bestimmendes Merkmal dieser empfehlenswerten Neuauflagen. Das Großformat ermöglicht dem Leser eine detaillierte Betrachtung der Arbeiten, der Text in der alten Übersetzung von Rudolf Hermstein aus den frühen siebziger Jahren ist sehr passend für diese überzeugende Arbeit in Lovecrafts Spätwerk, in welcher nicht nur wie angesprochen Lovecrafts Urängste noch einmal zum Leben erweckt werden, sondern neben den Bezügen zu Cthulhu Mythos – wie alle Arbeiten steht sie aber auf zwei Beinen, kann also isoliert von den anderen Texten genossen werden – auch viele Versatzstücke aus seinem Werk deutlich stringenter präsentiert mit einem erstaunlich sympathischen, bislang eher theoretisch operierenden Erzähler zusammenfließen.  Natürlich werden einzelne Aspekte wie die Hybridwesen aus dem Meer heute altbacken und klischeehaft erscheinen, aber wie schon angesprochen muss der Leser immer daran denken, dass Lovecraft einer der ersten Autoren gewesen ist, welche einen kosmischen Schrecken sowohl aus dem Inneren der Erde wie auch dem Meer sowie aus den Tiefen des Alls heraufbeschworen hat. Und das war in dieser Zeit großes literarisches Kino.

Der Schatten über Innsmouth: Durchgängig farbig illustrierte Ausgabe im Sonderformat

  • Herausgeber ‏ : ‎ Heyne Verlag
  • Erscheinungstermin ‏ : ‎ 1. Mai 2025
  • Auflage ‏ : ‎ Deutsche Erstausgabe
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe ‏ : ‎ 68 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3453275179
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3453275171
  • Originaltitel ‏ : ‎ The Shadow over Innsmouth
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