Im Labor der Visionen

Franz Rottensteiner

Franz Rottensteiner Sammlung "Im Labor der Visionen" enthält nicht nur neunzehn Aufsätze und Vorträge aus den Jahre 2000 bis 2012, sondern wie im Vorwort steht zusätzlich Vor- und Nachwörter zu Anthologien unter anderem von Wolfgang Jeschke, das kurze Portrait des Titelbildkünstlers Helmut Wenske und eine Würdigung des Freundes/ Kollegen Kalju Kirde. Daher ist diese Sammlung auch weniger als eine intensive Auseinandersetzung mit dem Science Fiction Genre zu verstehen, sondern als Gedankensammlung, als Einführung aus sehr variablen Perspektiven für ein Publikum, das mit der Science Fiction im Allgemeinen und den Besonderheiten einzelner Strömungen im Besonderen nicht vertraut ist. Ohne Frage greift Franz Rottensteiner in den einzelnen Aufsätzen und Vorträgen bestimmte Aspekte wiederholt auf. Der Herausgeber hat sich positiv für den ganzen Text entschieden, diese Wiederholungen zu belassen, da sie interessanterweise Ausgangsbasen für unterschiedliche Gedankenmodelle bilden. Auch wenn die Texte gut nach einander zu lesen sind, empfiehlt es sich, einzelne zu unterschiedlichen Anlässen geschriebene Arbeiten miteinander zu kombinieren. "Zur Kritik an der Zukunft" - ein Vortrag aus dem Jahr 2000- und der bislang unveröffentlichte Text "Religion und Science Fiction" verbindet sehr viel mehr als es die Überschriften oder vielleicht die einleitenden Kapitel vermuten lassen. Franz Rottensteiner nimmt Ideen aus dem allgemein gehaltenen Vortrag auf und verfeinert sie dabei in "Religion und Science Fiction" unter Herbeiziehung der gleichen Werke. Dabei reicht sein Spektrum von den "Klassikern" dieses Subgenres und ihren aus heutiger Sicht manchmal fragwürdigen Implikationen bis zu Russells "Sparrow", der das Sendungsbewußtsein der Jesuiten durch die Konfrontation einer für sie unverständlichen außerirdischen Zivilisation zerbricht und den Protagonisten an den eigenen Mauern im Kopf scheitern lässt.

Franz Rottensteiner war über viele Jahre ohne Frage erfolgreich Stanislaw Lems Agent. Und diese "Beziehung" zieht sich durch eine Reihe von Aufsätzen und Artikeln, wo der Leser es nicht erwartet. Während die quasi religiösen sozialkritischen Aspekte in einigen von Lems Arbeiten kritisch einem überraschenden Realitätscheck unterworfen werden, erscheint es auf der anderen Seite fragwürdig, wenn Lems antiquierte Machoansichten eines Schreibtischtäters in einen Zusammenhang mit Joanna Russ streitbarem Feminismus gestellt werden. Hier argumentiert  der Kritiker Rottensteiner an der Realität vorbei, die sich Joanna Russ in einer sich stark wandelnden siebziger und achtziger Jahre Gesellschaft erkämpft hat. Ebenfalls kaum nachzuvollziehen ist Rottensteiners Bemwerkung, dass Wolfgang Jeschke - das Vorwort aus einer "Shayol" Kurzgeschichtensammlung ist hier nachgedruckt - zwar wegen seiner unbestreitbaren Verdienste um die Science Fiction zu Recht gelobt wird, sich aber mehrmals in der Sammlung die Bemerkung findet, dass Jeschkes Reihe den Heyne Verlag als Ganzes zu dem gemacht hat, was er teilweise Ende der achtziger und in den neunziger Jahren darstellt. Das Heyne Programm bestand ohne Frage in seiner Blütezeit aus teilweise mehr als zehn Titeln pro Monat, aber zu dieser Zeit hat Heyne auch teilweise alleine mehr als zweihundert Büchern pro Monat auf den Markt geworfen. Der prozentuale Anteil der Science Fiction am gesamten Programm und vor allem trotz der "Star Trek" Euphorie oder den verschiedenen Bestsellerzyklen, der Übernahme Stephen Kings vom Konkurrenten Bastei oder der Krimi sowie Westernsparte sollte realistisch und nicht verklärend dargestellt werden.

Von diesen beiden Schwächen abgesehen präsentiert sich Rottensteiner als launiger Erzähler, der überwiegend in seinen zu Beginn der Sammlung nachgedruckten Vorträgen mit fundiertem Fachwissen, das anschaulich präsentiert wird, auch beschlagene Leser/Zuhörer ansprechen kann. Insbesondere "Die Zukunft der Science Fiction" und "Einige kritische Anmerkungen zum sozialkritischen Gehalt von SF" beinhalten neben einer Reihe heute in Vergessenheit geratener, aber elementarer Werke einen guten einführenden Überblick über das Gesamtthema. Rottensteiner kann und will nur anreißen. Dabei umschifft er einige Klippen und mit praktischen Anmerkungen -  siehe die Verbreitung des privaten Autos - nimmt er eine  Gegenposition ein, welche manchen Zuhörer wahrscheinlich verblüffen wird. Vielleicht arbeitet er unterschwellig den Aspekt der Massenliteratur zu stark heraus. Aus heutiger Sicht kann und muss jedes literarische Werk als eine Art Massenliteratur bezeichnet werden, da es das Schreiben aus künstlerischen Aspekten nicht mehr gibt. Die Massenliteratur definiert sich über die Anzahl der verkauften Exemplare. Das "Star Wars" den Verlagen kommerzielle Türen und Tore geöffnet hat, steht außer Frage. Auf der anderen Seite hat aber auch der technische Fortschritt erst eine weitere Durchdringung des Mainstreams ermöglicht. Inzwischen ist es billiger, fremdartige Welten im Computer zu erschaffen als manche Copshow auf den Straßen amerikanischer Großstädte zu drehen. Und die Phantastik als Genre hat immer von dem Prinzip der Perlen gelebt, die sich von Anbeginn an in den verschiedenen Pulpmagazinen gefunden haben. Hier sei auf Rottensteiners Aufsatz über die Schriftstellerin Eufemia Adlersfeld- Ballestrem verwiesen, die ihn ihrem anscheinend laut Autore stereotypen und sich stetig handlungstechnisch wie in Bezug auf die Personen stark wiederholenden Werk  selbst ein Meisterwerk des Unheimlichen erschaffen hat. Es ist manchmal auch wie bei Peter Schattschneider schwierig, eine Distanz aufzubauen. Immerhin hat Franz Rottensteiner dessen erste Arbeiten auch verlegt. Die Nach- und Vorwörter dieser Sammlung sollte der Leser nur als Einladung verstehen, die dahinter liegenden Autoren teilweise noch einmal zu lesen. Im Vergleich zu den Vorträgen beschränkt sich Rottensteiner auf zu positive Oberflächlichkeiten.

Bei den hier gesammelten  Artikeln ist die kritische Qualität von natürlich unterschiedlicher Natur. Wenn der Autor über Michael Iwoleit oder Wolfgang Jeschke für deren Geschichtensammlungen schreibt, dann ist eine objektive Kritik fehl am Platz. Das bei Michael Iwoleit die Erweiterung einer seiner besten Novellen zu einem Roman höflich gesprochen misslungen ist, wird unter den Tisch gekehrt. Bei Wolfgang Jeschke wird die neue Verlagsmethode,  eine Einzelbuchkalkulation statt den Erfolg einer Reihe zu bewerten, vielleicht berechtigterweise kritisiert, auf der anderen Seite veröffentlicht Heyne wie das "Sf Jahrbuch" immer noch Bücher, die eher kosten verursachen als Erträge zu bringen. Ohne Frage sind Wolfgang Jeschke, Herbert W. Franke und Michael Iwoleit überdurchschnittliche Autoren, aber die hier gesammelten Würdigungen wirken zu euphorisch und wirken teilweise deplatziert. Unglücklich aufgebaut ist der Artikel über Erich Dolezal. Seine Jugendbuchveröffentlichungen nach dem Zweiten Weltkrieg werden teilweise berechtigt scharf kritisiert. Dann schwenkt Franz Rottensteiner ohne Vorbereitung auf dessen Vorkriegswerk über, das inhaltlich innovativer und stilistisch anscheinend interessanter gewesen ist. Warum ein Autor qualitativ derartig "nachgelassen" hat, wird nicht weiter untersucht. Dagegen sind die langen Arbeiten über "Lovecrafts transhumane Transformationen" - der Titel ist komplizierter als der ganze Text - und über den Seelenwanderer  Paul Busson.

Im Bereich des Films versucht sich Franz Rottensteiner in einer der schwächsten Betrachtungen an „Solaris- ein Roman und seine Verfilmungen“. Im Vergleich zu der differenzierter Interpretation einer inhaltlichen „Provokation“ und weniger eines stringenten Romans mit zwei derartig unterschiedlichen und doch irgendwie auch inhaltlich konträr zusammenpassenden cineastischen Adaptionen aus der ehemaligen UdSSR und der USA ist der Autor überfordert. Seine Position ist ambivalent und die kritischen Argumente wirken zu wenig mit Fakten untermauert. Das der Autor inzwischen ein differenzierteres Verhältnis zu seinem ehemaligen Schützling hat, zeigt „Stanislaw Lem und die letzten Dinge“. Bei diesem 2008 entstandenen Artikel ist allerdings das Publikum – die Besucher des wahrscheinlich letzten Kongresses der Phantasie in Passau – zu berücksichtigten. Rottensteiners Kritik an Lem als Autor und nicht als Mensch ist immer vorsichtig, positiv unterstützend und dessen Schwächen – eine paranoide Furcht vor dem Internet als Hort der neuen Information – relativierend.

Zusammengefasst ist „Im Labor der Visionen“ ein Streifzug durch Rottensteiners ohne Frage langjährige Verdienste um die Phantastik mit einem Schwerpunkt der Science Fiction aus einer nicht unbedingt negativ gemeint persönlich subjektiven Warte geschrieben, die in einige der Artikel mit Querverweisen auf das eigene Schaffen einfließt. Rottensteiner sieht sich immer als Kritiker mit einem Hang zu einem offenen, direkten Wort. Das zeichnet auch die Vorträge insbesondere zu verschiedenen Themen aus dem ersten Teil der Sammlung aus. Sie sind gut lesbarer und sollten als Sprungbrette einer Entdeckungsreise gesehen werden, an deren Ende der Leser eine Reihe von inzwischen in Vergessenheit geratenen Schriftstellern oft zum ersten Mal kennenlernen kann. Herausgeber Dieter von Reeken hat den Band reichhaltig und überzeugend mit verschiedenen Titelbildern unterschiedlicher besprochener Romane und einigen gut wieder gegebenen Fotos bebildert. Das eine Zeichnung von Helmut Wenske das Cover zieht braucht nicht gesondert erwähnt werden.   

 

 

  • Taschenbuch: 268 Seiten
  • Verlag: Reeken, Dieter von; Auflage: 1 (30. Januar 2013)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3940679720
  • ISBN-13: 978-3940679727
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