Hobo Nation

Lucius Shepard

Lucius Shepards Werk hat immer ein magischer Realismus durchzogen, eine kritische Haltung gegenüber den Menschen und insbesondere den Vereinigten Staaten mit einem Faible für die Sozialschwachen, die Außenseiter. So ist es im Grunde keine Überraschung, dass Shepard 1998 für das „Spin“ Magazin einen Artikel über eine scheinbar Mafia ähnliche Organisation im Bereich der Heimatlosen Hobos verfasste. Laut einigen Polizisten sollen die „Freight Train Riders of Amerika“ für hunderte von Morden unter Hobos sowie den Drogenschmuggel auf einigen Routen durch Texas verantwortlich sein. Zwei Monate lang reiste Shepard unter anderem mit den Hobos auf den endlosen Güterzügen durch die Vereinigten Staaten. Neben dem hier vorliegenden Artikel entstand im Jahre 2002 die Novelle „Drüben“, welche auf einige seiner Erfahrungen und vor allem vielen seiner Gespräche basiert. Zwei Jahre später hat Shepard für diese Buchausgabe den Artikel noch einmal überarbeitet und exklusiv mit „Die Ausreißerin“ eine weitere Kurzgeschichte geschrieben. Noch mehr als in dem Artikel demontiert Shepard in seinem ausführlichen und lesenswerten Vorwort den Mythos der Hobos auf ihren Zügen. Angeblich ist der Mythos in der großen Depression geboren worden - die ersten Hobos gab es laut seiner Recherche schon
nach dem Bürgerkrieg: es waren die Soldaten, die plötzlich insbesondere im Süden heimatlos geworden sind. Vom Bild der grenzenlosen Freiheit auf den endlosen Zügen, einem verantwortungslosen Leben und vor allem dem romantischen Outlaw ist nichts mehr geblieben. Allerdings hat Shepard auch auf seinen Reisen Teile der USA gesehen, welche nur von den Güterzügen betrachtet werden können. Diese endlosen Landschaften können nur mit und von den Hobos gesehen werden und sollten diesen aussterben, besteht die Gefahr, dass im übertragenen Sinne diese Schönheit auch aus den Augen der Betrachter und damit dieser Realität verschwindet.
Im teilweise sehr deprimierenden Artikel „Die FTRA Story“ hat Shepard Hobos und Gesetzeshüter interviewet. Eine kriminelle Organisation konnte er nur in den Augen eines besonders paranoiden Polizisten und der Storyhungrigen Presse finden. Viele der Hobos haben diese Existenz nicht freiwillig gewählt. Sie sind dem Druck erlegen, der insbesondere aus dem persönlichen Umfeld unerträglich geworden ist oder die erste Reise ist für sie dank Alkohol und Drogen - unverzichtbare Begleiter fast aller Hobos - zu einer Sucht geworden. Der Kultfaktor ist allerdings inzwischen sehr hoch. Auf ihren Jahrestreffen finden sich Magazinherausgeber und Schaulustige, ihre Geschichten werden in kleinen Fanzines abgedruckt und die Herausforderung der Hobos besteht inzwischen darin, die schwer begehbaren Bahnhöfe als Abfahrtziele ihrer unbestimmten Reisen auszusuchen. Die Romantik wirkt mehr und mehr aufgesetzt, die Ordnungshüter verachten die Herumtreiber und sehen in ihnen moderne Zigeuner mit allen Vorurteilen. Diese bestätigen sich allerdings auch bei einigen Gruppen. Shepard hat in seinen Interviews sehr viel heiße Luft für billigen Alkhohol kennen gelernt. Das einzige, was ihm positiv im Gedächtnis geblieben ist, ist die Freiheit während der Fahrten durch die USA in den endlos langen Güterzügen. Viele Motive, Ansätze verwendet der Autor in den beiden drauf folgenden Geschichten. Es lohnt sich, die Sammlung mit dem Artikel zu beginnen, um Fakten und Fiktionen besser einordnen zu können. Auch wenn Lucius Shepard keine Hobo- Mafia gefunden hat, zeigt er auf, dass die Hemmschwellen zur Gewalt und Kriminalität innerhalb dieser losen Gruppe stark reduziert sind. So ist die „FTRA“ weniger eine Gefahr für die Gesellschaft als eine Gefahr für sich selbst.


Die längste Geschichte oder besser Novelle „Drüben“ stammt aus dem Jahr 2002. Sie erschien ursprünglich online auf Scifiction. Lucius Shepard ist für diese Arbeit mit dem Sturgeon Award ausgezeichnet worden. Für Billy Long Gone beginnt der Tag denkbar schlecht. Sein treuer Hund ist mit einem Fremden mitgegangen. Er verfolgt ihn, kann sich in letzter Sekunde in den Güterwagon eines abfahrenden Zuges werfen und landet schließlich im „Drüben“. Ein seltsam wunderbares Land, in welchem in erster Linie Ex- Hobos wie er selbst einer ist leben. Er muss sich von ganz unten in diese Gesellschaft hineinarbeiten. Nicht unbedingt erleichtert wird ihm der Einstieg durch eine junge Frau, welch er im Diesseits vor der Hochzeit hat sitzen lassen. Körperlich gesundet er. In seinem Gedächtnis kommen mehr und mehr seiner Alkohol- und Drogen bedingten Taten an die Oberfläche. Niemand kann Billy Long Gone wirklich erklären, wo dieses Land liegt und welche Bedeutung es für die einzelnen Menschen bzw. auch seine geistige/ körperliche Genesung hat. In seinen Überlegungen vergleicht er es mit einem Computerspiel, anscheinend hat er die erste oder zweite von mehreren Ebenen erreicht. Es gibt Gerüchte, dass es hinter den Bergen eine zweite Ebene gibt. Aber bis auf wenige handschriftliche Aufzeichnungen hat noch niemand einen Beweis für ihre Existenz erbringen können. Doch dieses Paradies fordert auch einen Preis. Die Menschen in der kleinen Siedlung werden von fliegenden Geschöpfen – den Beardsleys – bedroht. Nach einem verheerenden Angriff entschließt sich Billy Long Gone, den Zug über die Berge zu nehmen und selbst nach der nächsten Ebene zu suchen.

„Drüben“ ist eine fesselnde Story, welche den Leser allerdings auch mit sehr vielen offenen Fragen zurücklässt. Zum einen enthält sie klassische Elemente einer Entwicklungsstory. Der Leser lernt zusammen mit Billy Long Gone dieses fremdartige Land kennen. Gleichzeitig wacht er aus seinem Selbstmitleid auf und beginnt sich wieder einem verantwortungsvollen – auf kleinster Ebene – Leben zu stellen. Es dauert seine Zeit, bis Gone als Handlungsträger nicht nur die Sympathien der Leser gewinnt, sondern zumindest vorläufig einen Lebensmittelpunkt findet. Diesen Prozess beschreibt Shepard ohne Selbstmitleid, eine Klischees und vor allem für einen derartig emotionalen Vorgang unglaublich sachlich. Der zweite, deutlich surrealistischere Teil ist die Reise auf die nächste Ebene. Hier greift Shepard durchaus nachvollziehbar auf Elemente der Computerspiele zurück und fordert seine Protagonisten auf, dass zu tun, was am wenigsten erwartet wird. Der Kampf um Zug ist eindringlich, verbindet eher klassische Heroic Fantasy Elemente mit dieser märchenhaft traumartigen Welt. Dabei wirken die Bedrohungen künstlich inszeniert, wie in einem schlechten Traum oder eben in einem Computerspiel, von einem Verrückten programmiert.
Am Ende der Geschichte weigert sich Shepard allerdings, auf die zahlreichen Fragen antworten zu geben. Könnte es sich nur um einen Wachtraum im Augenblick des Todes gehandelt haben? Besteht wirklich ein Jenseits nur für Hobos, in welchem sie zwar nicht mehr so frei, aber im Vergleich zu unserer Zivilisation noch relativ ungebunden leben können? Ist die nächste Ebene das Ziel der Reise oder nur eine weitere Durchgangsstation? Auch wenn sich für ein Buch über Hobos Shepards Grundthemen wie die Faust aufs Auge eignen, wiederholen sich in der vorliegenden Novelle eine Reihe von Elemente, auf die der Autor gerne, manchmal ein wenig zu oft zurückgreift. Überwiegend sind es männliche Protagonisten, welche entweder am Rand unserer eher unmenschlichen Gesellschaft oder in einem exotisch fremdartigen und damit „feindlichen“ Land leben oder dahin vegetieren, welche extreme Anpassungsschwierigkeiten haben, die sich für ihre Vergangenheit bemitleiden und nicht bereit sind, für die eigenen Taten Verantwortung zu übernehmen. Entweder körperlich oder zumindest geistig gehen sie auf eine gefährliche Reise, in deren Verlauf sie intellektuell reifen. Sie erreichen ihre Ziele – in vielen Geschichten eine andere Realitätsebene -, werden aber auch an diesem Ort nicht gänzlich glücklich. Aber wie kein anderer Autor kann Shepard mit seinen gebrochenen Charakteren überzeugende Protagonisten insbesondere in seinen Novellen beschreiben, die glaubwürdig selbst unter extremsten Umständen handeln. „Drüben“ lebt von ihren interessanten, aber niemals wirklich ausformulierten Ansichten. Zu Beginn der Novelle räumt Lucius Shepard mit wenigen, eindringlichen Bildern – wie auch in seinem Vorwort angedeutet – mit dem bestehenden Hobo Mythos auf. Der Autor erschafft dann nach der Zerstörung des Mythos ein neues „Drüben“, einen Hobo Himmel. Und dieser liegt natürlich an der Endstation einer langen Zugfahrt durch die „grenzenlosen“ Weiten Amerikas.

Die zweite Geschichte „Die Ausreißerin“ beschreibt die Begegnung zwischen einem Hobo namens Madcat und dem jungen Mädchen. Im Original heißt die Geschichte „Jailbait“ und dieser Titel ist gleichzeitig der Spitzname der Ausreißerin, die sich trotz ihres Lebens auf dem Schienenstrang immer der Illusion hingibt, zu ihrem vermögenden Onkel zurückkehren zu können. Madcat ist auf der Flucht vor der Polizei, weil er einen Polizisten angegriffen hat, als dieser ihn mit Madcats Frau betrogen hat. Die beiden sehr unterschiedlichen Menschen kommen sich erst körperlich, dann auch emotional näher. Die Geschichte enthält keine phantastischen Züge, sie gewinnt allerdings an Tiefe in Kombination mit dem sekundärliterarischen Teil des Buches. Es ist interessant zu sehen, wie Lucius Shepard Fakten in Fiktion umwandelt. Der Autor hat viele Informationen und Namen, die er bei seinen vielen Interviews erhalten hat, in eine sehr stringente, wenig romantische und doch teilweise kitschig sentimentale Story umgesetzt. Während „Drüben“ den Leser zum Nachdenken auffordert, fließt „Die Ausreißerin“ in der Tradition eines Jack Londons eher ruhig und ab der Mitte vorhersehbar dahin. Der Leser hat den Eindruck, als habe der Autor diese Geschichte deutlich vor „Drüben“ geschrieben, obwohl sie erst später veröffentlicht worden ist. Sie wirkt wie der erste Versuch, das Material der FTRA- Story in ein Prosastück umzusetzen. Stilistisch ansprechend gehört sie leider nicht zu Shepards besten Arbeiten, auch wenn die Charaktere wieder mit einem feinen Gespür gezeichnet worden sind.

„Hobo Nation“ ist sicherlich eine ungewöhnliche, aber sehr ansprechende Lektüre. Der Artikel zeichnet ein pessimistisches, aber nicht nihilistisches Bild der sozialen Außenseiter. Eine Situation, die sich in den zehn Jahren seit Entstehen des Werkes nicht verbessert haben dürfte. Die beiden Novellen/ Kurzgeschichten sind trotz ihrer Schwächen lesenswert, wobei insbesondere „Drüben“ zu Lucius Shepards schönsten Geschichten der letzten Jahre gehört.

Lucius Shepard: "Hobo Nation"
Anthologie, Hardcover, 205 Seiten
Edition Phantasia 2008

ISBN 9-7839-3789-7295

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