Das sechste Erwachen

Mur Lafferty

 Mur Laffertys “Das sechste Erwachen” ist eine originelle Variation des typischen psychopathischen Serienkillerthemas im All. Der Handlungsort des rückblickend ein wenig zu umfangreichen Thrillers ist das Generationenraumschiff Dormire, das mit mehr als zweitausend auf eine besondere Art und Weise schlafenden Kolonisten auf dem Weg zu einem fernen, noch nicht wirklich nachhaltig erkundeten Planeten ist.  Genau wie der Handlungsort sehr eng umrissen ist, konzentriert Mur Lafferty die Handlung auf nur sieben Charaktere bzw. ihre Klone. Alles Markenzeichen des „Locked Room“ Mysterys, mit dem sehr gute Krimiautoren ihre Zuschauer seit vielen Jahren begeistern.  Mur Lafferty fügt dieser Idee mit den Klonen allerdings eine bedingte Erweiterung hinzu.  Hinzu kommt, dass alle in Frage kommenden Täter- dabei handelt es sich logisch betrachtet um sechs der sieben Charaktere- Kriminelle sind, die an Bord des Generationenschiffes quasi ihre Strafe für sehr unterschiedliche Verbrechen abarbeiten und am Ende der Reise freie Klone, aber nicht mehr unbedingt originäre Menschen sind.

Dabei ist es wichtig, die einzelnen Prämissen zu kennen. Einige wichtige Eckdaten werden in den verschiedenen, durch einzelne Phasen des jeweiligen Erwachsens gekennzeichneten Kapiteln gegen Ende des Buches erläutert, so dass sich das Mosaik erst spät,  dafür  überwiegend aber auch sehr zufriedenstellend zusammensetzt.   

Über allem schwebt der Krieg zwischen Menschen und Klonen vor einer mehr oder minder unbestimmten Zeit. Die Menschen haben schließlich gewonnen und wie in David Brins „Kiln People“ sind eine Reihe von Gesetzen erlassen worden. Interessant ist,  das der Krieg eher wie eine Art „Deus Ex Machina“ Lösung auch hinsichtlich der abschließenden Pointe verwandt wird. Er ist im Grunde unnötig, denn die erlassenen Gesetze wären auch ohne diesen Konflikt nicht nur relevant, sondern auch in Hinblick auf die Klone existentiell. Menschen können freiwillig wählen, ob sie normal  leben und sterben wollen oder durch das Übertragen ihres  Geistes in einen Klon relative Unsterblichkeit erlangen wollen. Ihre Erinnerungen und Erfahrungen werden regelmäßig „mindmapped“ und entsprechend gespeichert. Lafferty ist in einer Hinsicht allerdings ambivalent.  Ob diese Speicherung von Daten auch die Essenz eines Menschen wirklich abbildet, stellt er nicht in Frage, sondern geht mit dieser Idee sehr oberflächlich um.  Mal scheint das der Fall zu sein, an deren Stellen werden nur Wissen  und Fähigkeiten übertragen, schließlich ist ein Mitglied der Besatzung im Grunde gegen jede  Logik tatsächlich ein Mensch geblieben. Eine nachhaltige und vor allem diskussionswürdige klare  Linie ist nicht zu erkennen.

Wenn der Körper eines Menschen stirbt, wird dessen Essenz in den Klonkörper  übertragen.  Es darf aber nur einen Klon zur Zeit geben, eine weitere Kopie verliert ihre Lebensberechtigung und darf jederzeit ohne Gerichtsurteil zerstört werden.  Die eine Klonkopie darf dann ein eigenständiges Leben beginnen.  Sie kann auf alle Erinnerungen zurückgreifen, allerdings ist es auch möglich, im Vorwege Krankheiten aus dem neuen Körper herauszuziehen und diesen entsprechend zu stärken oder zu manipulieren.  Ein weiteres Feld, das Missbrauch und Verbrechen  förmlich anzieht. 

Im Laufe der verschiedenen Rückblicke wird der Leser klar erkennen, wie sehr und wie unterschiedlich die meisten ehemaligen Verbrecher und jetzt im All gestrandete Astronauten mit dieser sozialen Herausforderung negativ in Berührung gekommen sind.  Die Grundidee  ist ohne Frage faszinierend und gibt dem Kriminalplot ein zusätzliches Spannungsmoment.

Wie es sich gehört beginnt ein solcher Roman mit dem eher ungeplanten Erwachen der Kloncrew. Durch die Rückblicke  lernt der Leser die Charaktere erst später besser kennen, aber der Auftakt ist für den Aufbau der Spannungskurve durchaus ausreichend.  Katrina ist die  Kommandantin des Schiffes.  Ihr gerade erwachter Klon wird später auf der Krankenstation die Vorgängerin schwer verletzt und ohne Erinnerung an die Taten finden. Dabei verstoßen die sechs Besatzungsmitglieder gegen eine Reihe von Regeln, denn es darf ja nur einen Klon geben und die frisch erwachte Kopie müsste gleich getötet werden. Über ihren Stellvertreter Wolfgang erfährt der Leser in den ganzen Geschichte erstaunlich wenig, was ihn in der Theorie gleich zum Täter  machen müsste.  Paul ist der Ingenieur, weit von einem Scotty entfernt, aber er verfügt über ein erstaunliches Improvisationstalent. Hiro ist der Programmierer, wobei Maria als  Handlanger für  alle Fälle sehr viel  mehr verbürgt. Es stellt sich die Frage, ob tatsächlich die jeweilige Vergangenheit der Protagonisten angesichts der Wichtigkeit der Mission versteckt werden kann oder ob hinter den Kulissen eine umfangreichere Planung stattgefunden hat. Andreas Suchanek hat vor allem in den ersten 25 Romanen seiner „Helisophere 2265“ Serie bewiesen, wie man mittels verschwörerischen Zwiebelschalenmodellen mit auf verschiedenen Ebenen oder Schalen agierenden opponierenden Gruppen eine Besatzung individuell und für  die eigenen Ziele perfekt ausgesucht zusammenstellen kann. 

Jonas ist der Schiffsarzt und die künstliche Intelligenz, welche das Schiff in den Ruhephasen auch der Crew durch die Tiefen des Alls steuert ist IAN.  Die Klone werden aufgeweckt, weil fünf der sechs Vorgänger ermordet worden sind. Während die Kommandantin schwer verletzt auf der Krankenstation des Schiffes liegt, sind die meisten der „Toten“ niedergestochen worden. Sie tragen mehrere Stichverletzungen, während ein Mitglied anscheinend Selbstmord begehend erhängt aufgefunden worden ist. 

Auch wenn alle Spuren auf den potentiellen Selbstmörder deuten und die Kommandantin aufgrund der Schwere ihrer Verletzungen und der daraus resultierenden Bewegungsunfähigkeit als „unschuldig“ ausgeschlossen werden muss, baut Mur  Lafferty seinen kriminalistischen Plot stringent strukturiert auf.  Wie bei Agatha Christie muss einer der Klone der Nachfolger des  Mörders sein und es besteht die Gefahr, dass dessen Wahnsinn auf das eben erwachte Crewmitglied übergesprungen ist. Ein Motiv ist ebenfalls nicht zu eruieren,  so dass spätestens mit der Sabotage des  Lebensmitteldruckers an Bord des Raumschiffs klar ist, dass es sich  nicht um eine Tat aus dem Affekt heraus handelt, sondern der  alte bzw. neue Mörder Interesse hat, die anderen Klone umzubringen.    

Der Plot ist langsam aufgebaut.  Das Tempo wird stetig  gesteigert, auch wenn der Handlungsfaden an einigen Stellen sehr viel stringenter und effektiver hätte gestaltet werden können. An einigen  Stellen hat der  Leser das unbestimmte Gefühl,  als habe Mur Lafferty absichtlich eine weitere  nicht unbedingt notwenige Schleife eingebaut, um den Handlungsbogen zu verlängern, aber die Ermittlungen nicht zu beschleunigen. 

Interessant ist, dass Mur Lafferty den Leser auf eine gänzlich andere Art und Weise einbezieht. Er ist  der einzige,  der  die Hintergründe aller Besatzungsmitglieder kennt. Die Rückblicke sind neutral gestaltet und dienen nicht als eine Art Kommunikation zwischen den einzelnen Klonen.  Durch diese Neutralität  verzichtet Lafferty auf die Idee eines unzuverlässigen Erzählers,  welche seine Mitklone einfach anlügen könnte.  Diese Vorgehensweise macht es auch deutlich schwieriger, aufgrund des vorhandenen Wissens und der ermittelten Fakten einen Täter zu identifizieren.  Am Ende spielt das aus nur eine untergeordnete Rolle, denn Mur Lafferty baut einen weiteren Handlungsschwerpunkt gegen Ende des Plots ein.

Neben den dreidimensionalen Protagonisten mit ihren ambivalenten Hintergründen wird noch eine andere Idee angerissen. Diese  Klone sind endlich, die Idee der Unsterblichkeit durch ein immer neues Erwecken von neuen Klonkörpern funktioniert angesichts der beschränkten Resourcen an Bord des Raumschiffs nicht nachhaltig genug. Die Protagonisten müssen sich mit dieser Realität erst auseinandersetzen, wobei Mur Lafferty diese Idee manchmal zu ambivalent, zu pragmatisch behandelt und spannungstechnisch mehr daraus hätte entstehen können.    

Mit einigen Längen versehen ist „Das sechste Erwachen“  vor  allem wegen der innovativen Nutzung  von positiv alten Versatzstücken eine unterhaltsame und spannende Lektüre, die zurecht für den HUGO Award nominiert worden ist.

Originaltitel: Six Wakes (2017).
Deutsche Erstausgabe:  Heyne Verlag
Übersetzung von Bernhard Kempen
Cover: Das Illustrat, München, unter Verwendung von Motiven von Kimmo Lemetti
479 Seiten ISBN-13: 978-3-453-31919-6