Clarkesworld 138

Clarkesworld 138, Titelbild, Rezension
Neil Clarke (Hrsg.)

Neben dem Ergebnis der jährlichen Umfragen zu den besten Texten bildet vor allem das Interview mit Jo Walton eine interessante Ergänzung. Sie geht auf ihre kurzen, in einer neuen Anthologie zusammengestellten Arbeiten ein. Cat Rambo spricht über die Faszination von klassischen Rollenspielen und welchen Einfluss sie damals auf ihre Entwicklung als Autorin gehabt haben, während im letzten sekundärwissenschaftlichen Beitrag endgültig festgestellt wird, dass die gigantischen Tiefseebewohner fremdartig, aber nicht aus den Tiefen des Alls stammen.

 Wie in der Februar Ausgabe hat Neil Clarke um einen Kurzroman herum vier neue Kurzgeschichten sowie zwei Nachdrucke gesammelt. Im Gegensatz zu den letzten „Clarkesworld“ Ausgaben gibt es keinen lockeren roten Faden, der die Texte zusammenhält, sondern eher Stimmungen und humanistische Tendenzen, welche die einzelnen inhaltlich so unterschiedlichen Arbeiten miteinander verbindet. „Umplaces: The Atlas of Non- Existence” von Izzy Wasserstein präsentiert sich unabhängig von der Kürze auf zwei Handlungsebene. Die Realität ist dunkel, das Ende zynisch. Um diesen kurzen Plot herum hat der Autor eine Reihe von Stimmungen, von Ideen platziert, wie sie der Unterdrückung in totalitären Regimen entsprechen. Kij Johnsons „Tool- Using Mimics“ basiert auf einem alten,  gleich zu Beginn abgedruckten Fotos eines Mädchen, das vielleicht halb Mensch, halb Tintenfisch sein könnte. Daraus entwickelt die Autorin verschiedene Theorien, die sie stilistisch ausgesprochen ansprechend gegenüber stellt. Zu den Schwächen gehört, das die einzelnen Ideen im Nichts enden und nicht zu sehr in die Tiefe gehen. Trotzdem ein stimmungsvoller Auftakt der März „Clarkesworld“ Nummer.

 „Farewell, Adam“ von Xio Yinyu ist eine der Geschichten, die vordergründig entgegen aller Logik ausgesprochen gut funktioniert, aber deren Hintergrund der Leser aber nicht zu sehr nachdenken darf. Adam ist ein populärer Musiker, der seit einigen Jahren gelähmt ist. Adam will eigentlich sterben. Der Erzähler hat zehn Jahre seines Lebens gegen einen ordentlichen Bonus eingetauscht. Er gehört zu Adams Team, das den Körper am Leben erhält. Im Hintergrund beschäftigt sich der Autor mit einem Netzwerk, das so intensiv, so eng ist, das die Menschen vergessen, Individuen zu sein. Dieser Art virtuelle emotionale Realität wird allerdings zu wenig hintergründig entwickelt und es erscheint unwahrscheinlich, dass die Menschen ihre Schwächen – Adams Geist soll vergessen, das sein Körper gelähmt ist – vergessen oder ignorieren. Auf der anderen Seite erscheint es wahrscheinlich, dass ausgerechnet die Tragik seines frühen Unfalls, seiner Lähmung zu Adams weiterhin hoher Popularität in einem Medien beitragen, das auf den Moment, das passende Lied, den emotionale Augenblick perfekt hin gesteuert worden ist. Das Ende ist konsequent und süßsauer. Die Figuren sind allerdings ein wenig zu eindimensional gezeichnet. Als Ganzes aber eine sehr zufrieden stellende, vor allem stringent entwickelte Story mit einer originellen Grundidee. Mehr als einhundert Menschen sind nötig, um aus Adam den globalen Star, im Grunde die kommerzielle Ware zu machen, die in allen Bereichen des fiktiven Lebens überzeugt und deswegen ausreichend Geld generiert, um Manager, die einhundert Verlorenen und schließlich sogar die Industrie glücklich zu machen.

 „The No- One Girl and the Flower of the Farther Stone“ von E. Lily Yn ist eine bittersüße Parabel über das Leben und die nicht selten inneren Werte, die sich nicht in Besitztümern oder Einfluss widerspiegeln. Ein Mitglied der Oberschicht nimmt einem armen Mädchen ihren einzigen Besitz. Während diese als lebensfrohes Mädchen wiedergeboren wird, muss der Junge im Grunde sein vorherbestimmtes Leben nicht unbedingt erleiden, sondern höchstens durchschreiten, bis am Ende während des Epilog die beiden Perspektiven leider ein wenig zu moralisierend zusammenfließen und Vergebung unter allen Umständen auf den Fahnen der in dieser Hinsicht leider unglaubwürdigen Geschichte steht.

 „The Persistence of Blood“ von Juliette Wade ist einer der Geschichten oder Novellen, die lange im Gedächtnis bleiben und die vor allem auch ohne die phantastischen Elemente sehr überzeugend funktionieren. Diese sind ausgesprochen spärlich gesät. Eine fremde Gesellschaft auf einem erdähnlichen Planeten, bestehend aus unterschiedlichen Kasten, wobei die Trennung nicht nur aufgrund der Aufgaben, sondern vor allem auch genetischer Unterschiede erfolgt.

 Wie es sich für eine sehr gute Story gehört, entwickelt sich der Plot über die ausgezeichneten, dreidimensionalen Charaktere und deren Herausforderungen, denen sie auf sehr unterschiedliche Art und Weise begegnen. Mit Selemei verfügt die Autorin über eine über sich hinauswachsende Protagonistin, die mehrfache Mutter ist. Bei der letzten Geburt ihres Kindes ist etwas schief gegangen, so dass die nächste Schwangerschaft lebensgefährlich sein könnte. Als Mitglied der ersten Familie sind aber Kinder eine Art Standessymbol und mit 37 Jahren müsste sie weitere Kinder bekommen. Im Laufe der Handlung wird aus der durchaus selbstbewussten, aber in ihrem Denken gefangenen Mutter eine offensive und vor allem die Rechte der Frauen mit Intelligenz und weniger Provokation durchzusetzende Politikerin, die ihren Weg allerdings auch nicht alleine gehen kann. An der Seite steht ihr Mann Xeref, der seine Frau so sehr liebt, dass er die Standesgesetze ignoriert und eher an seiner eigenen Manneskraft zweifeln lässt als ihr Leben zu gefährden.

 Die Spannung bezieht die Story vor allem aus den politischen Auseinandersetzungen, in denen sich Männer dogmatisch gegen jede Veränderung wehren, ohne das sie nachhaltige Argumente haben. Aber einige lassen sich schließlich auch überzeugen, so dass der errungene erste kleine Sieg nicht konstruiert erscheint, sondern für den Leser jederzeit nachvollziehbar ist.

 Dank der nicht erdrückenden, aber soliden Ausarbeitung des Hintergrundes sowie den pointierten Dialogen ragt der ansprechend gestaltete Kurzroman aus der Masse vieler Arbeiten positiv heraus und gehört zu den besten „Clarkesworld“ Geschichten nicht nur das Jahres 2018, sondern der letzten zwölf Monate.  

 Die beiden Nachdrucke sind von unterschiedlicher Qualität. Kage Baker präsentiert in der Humoreske „Are You Afflicted with Dragons?” eine mittelalterliche Welt, in welcher die Drachen vor allem in kleiner Westentaschengröße zu einer Plage geworden sind. Ein verzweifelter Kneipenbesitzer heuert einen Magier an, der mittels eines besonderen Lockstoffes die Drachen einfangen kann. Der Preis ist zumindest für den Auftraggeber im Gegensatz zu den meisten Märchen nicht besonders hoch, dafür überzeugt auch die abschließende Pointe zu wenig. Aber Kage Bakers sehr angenehm zu lesender, pointiert humorvoller Stil macht aus der kurzweiligen Geschichte trotzdem ein Lesevergnügen.

 „God Decay“ von Rich Learson ist sehr kompakt. Ein Mann ist nach einem schweren Unfall durch verschiedene Upgrades – aus dieser Anthologie stammt auch die Geschichte – zu einem Supersportler geworden, ohne das sein Intellekt dieser Entwicklung nachhaltig standhalten kann. Solide geschrieben vertraut der Autor eher auf Implikationen als das er die zugrunde liegenden Ideen abschließend extrapoliert. Dafür sind die Protagonisten mit feinen Strichen für eine derartig kurze Geschichte überdurchschnittlich gut charakterisiert worden, so dass abschließend die nicht unbedingt neue Idee zumindest ansprechende Kleider erhält. 

 Vor allem „The Persistence of Blood“ macht aus der dritten „Clarkesworld“ Ausgabe des Jahres 2018 ein reines Lesevergnügen. Die intellektuelle Tiefe und die emotional überzeugend gezeichneten Protagonisten dieser Novelle gleichen die kürzeren, ein wenig oberflächlichen anderen Geschichten mehr als aus.