Gegen Unendlich 13

Gegen Unendlich 13, Titelbild, Rezension
Michael J. Awe, Andreas Fieberg und Joachim Pack

Ein wichtiger Aspekt der neuen „Gegen Unendlich“ Anthologie ist Mystery. Gleich zu Beginn eröffnet Mitherausgeber Michael J. Awe die Sammlung mit „Der Seltsamkeitsladen“, einem Gegenentwurf zu Romanen wie „Strange Things“ oder dem geheimnisvollen Dr. Lao aus dem gleichnamigen Film. In dem seltsamen, unheimlichen Laden werden nicht die Wünsche der Kunden erfüllt, sondern masochistisch legen sie ihre Schwächen ab. Der Autor verzichtet auf weitergehende Erklärungen und konzentriert sich in der originellen stimmigen Geschichte auf Implikationen, welche länger im Gedächtnis bleiben als jede logische/ unlogische Erklärung. Auch bei Uwe Dursts „Frau Griese“ weiß der Leser nicht, ob die ältere Dame sich das Schrumpfen ihres Hauses einbildet oder es einer nicht erklärten Realität entspricht. Der Plot wird vor allem von Dialogen getrieben, was die Perspektive noch subjektiver erscheinen lässt.

Beide Storys leben von den nicht abschließend extrapolierten Grundideen und konzentrieren sich auf ungewöhnliche, phantastische, immer am Rande des (alltäglichen) Wahnsinns sich bewegende Ideen.

 In den Bereich der Märchen gehört Michael Hutters „ Melchior Grün und das Sternentier“. Michael Hutter ist auch für das Titelbild dieser Sammlung zuständig. Kompakt erzählt er in seiner Fabel von einer ungewöhnlichen Zeugung, wobei die Erzählform dem Plot ein wenig entgegensteht. Wahrscheinlich wäre es sinnvoller gewesen, den Stoff nicht in dieser distanzierten Form zu verpacken, sondern als Fantasy Geschichte ausführlicher und trotzdem genauso ironisch zu erzählen.

 Auch Ellen Norton präsentiert eine Variation aus „1001 Nacht“. „Der magische Schleier“ soll Bilder aus der wahrscheinlich subjektiven Zukunft zeigen, wobei die vom Sultan durch seinen Statthalter zwangsverpflichtete und durch eine Geisel unter Druck gesetzte Tänzerin andere Ideen hat. Wie bei einigen anderen Geschichten ist die Grundidee interessant, die Umsetzung wirkt aber ein wenig zu stark konstruiert, zu sperrig, als das der Text neben dem märchenhaften Stil wirklich nachhaltig überzeugen kann.

 Das Prämisse und Plot manchmal auch rückblickend keinen Sinn ergeben, zeigt Norbert Fiks im Science Fiction Teil der Sammlung mit „Kurze Unterbrechung“ besonders drastisch. Die Story liest sich flüssig und gut. Die Idee der Cyberterroristen mit ihrem Feldzug gegen die Roboter ist interessant aufgebaut, nur funktioniert die Pointe wirklich nur bei einem komplett Betriebsblinden. Der Autor hätte weitere Hintergrundinformationen wie zum Beispiel eine neu eingegangene Partnerschaft hinzufügen müssen, damit der Protagonist nicht der Trottel ist, als den ihn die jetzige Konstellation der Geschichte darstellt. Der Autor propagiert immer Perfektion, aber so perfekt können die Roboter gar nicht sein, als dass die Pointe funktionieren könnte.

 Andreas Fieberg greift in „Fünf-Minuten- Schicksal“ im Grunde zwei alte Ideen der Science Fiction auf und fügt sie nicht unbedingt zu etwas Neuem zusammen, fesselt den Leser mit seinem mahnend belehrenden Stil und der Unabwendbarkeit des Schicksals trotzdem. Auf einem fremden Planeten werden in einem Höhlenlabyrinth Artefakte der verschwundenen Ureinwohner gefunden. Die jugendlichen Protagonisten untersuchen die Höhlen und finden eine Art Telefon, das eine bedingte „Zeitreise“ ermöglicht. Gut geschrieben mit tragischen, aber sehr lebendigen Figuren stellt der Autor die meisten Ideen der Zeitreise mit ihren gewollten und ungewollten Veränderungen der Vergangenheit auf den Kopf und präsentiert den kurzen Blick in die Zukunft. Positiv ist vor allem, dass der Autor auf eine „Deus Ex Machina“ Lösung verzichtet und die Handlung konsequent bis zu ihrem dunklen Ende vorantreibt.       

 Jochachim Packs „Lift!“ ist eine interessante Variation der First Contact Geschichte. Die Menschen haben aus Eigeninteresse in den lokalen Konflikt zwischen zwei Völkern auf einem fremden Planeten eingegriffen und spielen sich jetzt als befriedigende Besatzer auf. Ein bekiffter Soldat auf dem Heimflug zu seiner Basis erlebt, dass die Einheimischen die Fremden nicht wirklich mit offenen Armen empfangen haben. Herrliche Dialoge, eine absichtlich lange Zeit ambivalent gehaltene Handlung und die an die „unsichtbare“ Kultur der Indianer unter der Knute der weißen Eindringlinge erinnernde Pointe überzeugen bei dieser provokanten, aber lesenswerten Science Fiction Story.   

 Ute Dietrichs „Das Eis“ verfügt zwar über eine die wettertechnischen Entwicklungen erklärende Pointe, aber es sind die Charaktere, welche den Plot vor allem tragen. Nordeuropa versinkt im Schnee und Eis; die globale Erwärmung hat sich innerhalb von zwei Monaten umgekehrt. Beschrieben wird das Schicksal einer Handvoll Überlebender in einer kleinen Hütte in einem Schrebergarten, wobei insbesondere der an Krebs leidende Klimatologe zu einer tragischen Figur wird. Ruhig erzählt ohne die brutalen Exzesse des Post Doomsday Genres handelt es sich bei „Das Eis“ um eine stimmungsvolle, interessante und vor allem auf der emotionalen Ebene überzeugende Story. 

 In den Bereich der „Weird Fiction“ fällt „Schuld hat Dr. Moreau“ von Fernando Sorrentino. Es ist nicht der erste Auftritt des argentinischen Surrealisten in dieser Anthologiereihe. Übersetzt von Marion Kaufmann nimmt der Autor eine im Grunde alltägliche Begegnung zum Anlass, eine wunderbar groteske Geschichte zu spinnen. Der Bräutigam wird den Eltern vorgestellt. Während die Mutter immer noch attraktiv ist, entpuppt sich der Schwiegervater in spe als hässlicher, körperlich deformierter und vor allem auch zynischer Gnom. Der Erzähler kommt nach und nach hinter einen Teil seines Geheimnisses. Wunderbar selbstironisch geschrieben mit zahlreichen kleinen Seitenhieben und einem konsequenten Ende. Der Titel gibt einen Hinweis auf die Quelle, ist aber nicht an H.G. Wells Roman bindend. 

 Neben dem argentinischen Autor stellen die Herausgeber mit Amyas Northcote einen längst vergessenen Vertreter der „Haunted House“ Storys aus dem 19. Jahrhundert vor. „Brikett Bottom“ ist mit dem seltsamen Haus, das die eine von zwei Schwestern wie magisch anzieht, ein geradlinige, stringente Geschichte, die aus heutiger Sicht eher die Mechanismen des Subgenres nutzt als wie bei M.R. James in innovative interessante und zeitlose Richtungen zu extrapolieren. Trotzdem liest sich der Text flott und unterhält gut.

 „Gegen Unendlich“ stellt gerne einen Autoren inklusiv eines in sein Werk einleitenden Artikels vor. In dieser Ausgabe handelt es sich um den vor mehr als fünfundzwanzig Jahren verstorbenen Gert Prokop, der vor allem mit seinen utopischen Detektivkurzgeschichten um Timothy Truckle populär geworden ist. Armin Möhle stellt in seinem Essay nicht wie der Titel besagt nur die „SF- Kriminalstorys“ des Autoren vor, sondern sein ganzes phantastisches Kurzgeschichtenwerk. Sachlich mit einigen anfänglich gewählten Zitaten fasst der Autor einige Themen zusammen und zieht auch parallelen zur politischen Situation der siebziger Jahre. Im zweiten Teil mit dem nicht kriminaltechnischen Werk äußert sich Armin Möhle ohne Details ein wenig zu despektierlich über das restliche phantastische Kurzgeschichtenwerk des Autoren, zumal der Nachdruck eben keine Truckle Story ist. Unglücklich wirkt, dass Armin Möhle immer wieder mit kleineren Seitenbemerkungen die kritische Distanz seines Textes aufzulockern sucht und dabei nicht immer wirklich das Ziel trifft.

„Null minus unendlich“ von Gert Prokop unterstreicht dann, dass er ein Ideenreicher, vor allem zeitloser Autor ist. Die Welt ist überbevölkert; die Geburtenkontrolle wird noch einige Zeit benötigen, um zu greifen. Viele Eindrücke erinnern an den in den sechziger Jahren publizierten Fugenroman Robert Silverbergs „Ein glücklicher Tag im Jahre 2381“. Der Protagonist lebt mit seiner sehr geselligen Frau in einem kleinen Appartement. Er ist hoch intelligent und ein Erfinder, wobei er gerne Verantwortung an die Kollegen abschiebt, um auf seiner kleinen Position vor sich hin zu werkeln und möglichst niemand aufzufallen. Er hat eine spektakuläre Erfindung gemacht. Er kann Gegenstände in einer anderen Dimension verschwinden und wieder auftauchen lassen. Nur Gegenstände, bei Tieren und Menschen funktioniert das nicht. Daher ist die Pointe erkennbar, aber auf dem Weg dahin streift Prokop eine Reihe von sozial relevanten Themen wie die automatisierte Partnersuche – seine Frau will keine der nicht angekreuzten Vorlieben ausleben -; das Kastendenken in der Industrie; die Verknappung der Rohstoffe und schließlich auch die Enteignung der Massen in Form einer mehr und mehr kontrollierten Berufs- und im Grunde auch Privatlebensumgebung. Prokops Protagonist ist ein durchschnittlicher Mensch mit durchschnittlichen Bedürfnissen. Er möchte nur einmal vor seiner ihn erdrückenden Frau Ruhe haben. Auf der anderen Seite hat er Phantasien, die er nicht umsetzen möchte/ kann; die andere aber missverstehen. Es ist einer dieser liebevollen „Verlierer“, die sich in ihrem Schatten als moralische Sieger fühlen und froh sind, die Gesellschaft nicht aus Egoismus, sondern um sich ein wenig sinnbildliche Luft zu verschaffen, austricksen.

Der technische Hintergrund der Geschichte ist vage gehalten, aber funktioniert ausgesprochen gut. Die Grundidee ist nicht einmal neu und wurde mehrfach im Golden Age der amerikanischen Science Fiction ausprobiert, aber Prokops sachlich distanzierter, ein wenig selbst ironischer Stil lässt den Plot vor allem mit diesem so gewöhnlichen Protagonisten zeitlos erscheinen.

 Die dreizehnte Ausgabe von „Gegen Unendlich“ überzeugt nicht nur mit der Bandbreite an Themen (Weird Fiction über Fantasy bis zu klassischer Science Fiction), sondern auch aufgrund der Qualität der Geschichten. Selbst die Plots, die auf den zweiten Blick nicht überzeugen, lassen sich stilistisch sehr gut lesen. Auch die Mischung aus neuen Texten und Wiederentdeckungen, sowie der Blick über den Tellerrand der angloamerikanischen utopischen Literatur heben diese Anthologiereihe aus der Masse vergleichbarer, ursprünglicher Online Publikationen positiv hervor und machen Lust auf weitere „phantastische Geschichten“.    

 

 

  • Taschenbuch: 146 Seiten
  • Verlag: p.machinery Michael Haitel; Auflage: 1 (20. August 2018)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3957651247
  • ISBN-13: 978-3957651242