Forever Magazine 43

Forever Magazine, Titelbild, Rezension
Neil Clarke (Hrsg.)

Die August  2018 „Forever“ Ausgabe  ist eine der stärksten Nummern des ganzen Jahres. Eine Novelle – nominiert für die wichtigsten Science Fiction Preise – und zwei Kurzgeschichten, von denen eine aus einer in einem kleinen Verlag publizierten Anthologie einer Autorin stammt, die sich in den letzten Jahren viel zu rar gemacht hat.

 William Shunns „Inclination“ ist einer der Arbeiten, in denen vor einem Science Fiction Hintergrund soziale, aber vor allem auch religiöse Themen der Vergangenheit und der Gegenwart nachdenklich stimmend extrapoliert worden sind. Im Gegensatz zu Romanen wie „Lobgesang auf Leibowitz“ oder „The Sparrow“ kann William Shunn das Potential seines zwischenmenschlichen Konfliktes nicht abschließend und vor allem auch nicht befriedigend auflösen. Aber es gehört Mut dazu, die Themen überhaupt anzusprechen und einen derartigen Kontext zu wählen.

 In der fernen Zukunft gibt es eine gigantische Raumstation mit mehr als zwei Millionen Arbeiten, die immer am Rande der kapitalistischen Sklaverei ihre eigene sozialistische bis kommunistische Gesellschaft geformt haben. Wie in der Vergangenheit der Erde hat diese Art der Gleichstellung bzw. auch Gleichschaltung nicht funktioniert. Im Mittelpunkt der Geschichte steht der 15 Jahre alte Jude, der einer religiösen Gemeinschaft angehört. Im Gegensatz zu den anderen Arbeitern lehnen sie neben körperlichen Veränderungen auch eine technologische Entwicklung über ein bestimmtes Niveau ab. Verschuldet, verarmt muss diese Religionsgemeinschaft immer wieder vor allem Jugendliche zu den „normalen“ Menschen schicken, um gegenüber der allgegenwärtigen und doch irgendwie anonym wie ambivalenten Stationsleitung die Schulden abzuarbeiten. Wie es sich für “Coming of Age“ Geschichten gehört, wird Jude als Abgesandter mit einer Gesellschaft konfrontiert, welche nicht nur seinen Glauben ablehnt, sondern mit ihrem dekadenten frivolen Leben den Eckpfeilfern seiner Religion förmlich widerspricht.

 Jude wird mit seinen inneren Gefühlen gegenüber der aufblühenden Sexualität, seinem Vater und vor allem den Erinnerungen an seine verschwundene Mutter konfrontiert. Nach einem guten den Hintergrund erläuternden Auftakt konzentriert sich der Autor vor allem auf die zwischenmenschliche Ebene und zeigt wie James Blish in seinen Büchern einen klassischen Gewissenskonflikt auf. Im Gegensatz zu James Blish kommt eine „Rettung“ nicht von außen, sondern Jude muss in der Fremde seine eigene Position finden. Vor allem fällt es ihm in doppelter Hinsicht schwer, da sein Glaube Ignoranz gegenüber allem „Unreinen“ gebietet und Jude so wichtige Informationen nicht aufnimmt oder billigend zur Seite schiebt.

 Gegen Ende des Textes überschlagen sich die Ereignisse, wobei Shunn viele wichtige Themen abrupt und eher zusammenfassend abzuschließen sucht. Das lässt zu viele Flanken offen und unterminiert vor allem die interessante wie dreidimensionale Kultur, welche der Autor über einen längeren Zeitraum aufgebaut hat. Wie bei einem Kammerspiel hat sich Shunn auf wenige wichtige Figuren und einen kleinen überschaubaren Teil der gigantischen Station konzentriert, was auf der einen Seite Potential für weitere Texte offen lässt, auf der anderen Seite aber auch einige Ungereimtheiten und konstruiert erscheinende Passagen offen legt.

 Zusammenfassend hätte der zugrunde liegende Plot besser und überraschender strukturiert werden können. Als Novelle überzeugt die Geschichte trotz dieser Schwächen, weil Shunn eine lebendige Welt erschaffen hat, über die nicht nur Jude inzwischen erwacht, sondern vor allem auch der Leser sehr viel mehr erfahren möchte. 

 Im Grunde verbindet die drei sehr unterschiedlichen Texte ein gemeinsames Thema: das Leben/Erleben und Überleben in einer fremden oder fremd gewordenen Umgebung. „The Muses of Shayedan 18“ von Indrapramit Dass beginnt mit der Geburt eines wirklich fremden Wesens. Der Autor gibt sich sehr viel Mühe, eine gänzlich fremde Intelligenz auf einer fremden Welt zu beschreiben. Die Geburt wird noch aus der Perspektive eines Menschen beschrieben.  Mi ist eine Forscherin, die sich absichtlich in die Einsamkeit dieser Welt zurück gezogen hat. Sie lernt Tani kennen und verliebt sich in die Frau. Ihre Affäre dient den Außerirdischen als Inspiration für ihre Kunst. Daher ist der Titel auch doppeldeutig gewählt, denn ohne einen direkten Kontakt aufzubauen kommt es zu einer Kommunikation, von welcher beide Seiten profitieren. Auf ihre jeweilige Art und Weise.

 Die Beziehung zwischen den beiden Frauen könnte komplex sein. Neben den unterschiedlichen Lebensarbeiten hätte die Idee einer gewissen auch sexuellen Abhängigkeit der opportunistischen Art und Weise der Partnerin gegenüber gestellt werden können. Das entsprechende Konfliktpotential vor allem in Kombination mit einer tiefer gehenden Entwicklung der einzelnen Protagonisten hätte der Story gut getan. Stattdessen bleibt vieles nicht nur oberflächlich, sondern fast schematisch.

 Es sind aber die Fremden mit ihrer aus menschlicher Sicht nicht nachvollziehbaren Kultur und ihrer „unlogischen“ Denkweise, welche der Story nicht nur Tiefe geben, sondern vor allem den Leser neugierig machen, mehr über sie zu lernen und dadurch ihren Blick auf die komplizierten Menschen zu verstehen. Die Kurzgeschichte ist vielleicht nicht das richtige Instrument für einen derartigen literarischen Versuch, aber die verschiedenen Ansätze machen den Text nicht nur lesenswert, sondern regen über die leider einfach zu konstruiert erscheinenden menschlichen Protagonisten weit hinaus zum Nachdenken an.

 Maureen McHughs „After the Apocalypse“ stammt aus der gleichnamigen Storysammlung, die in der Autorenvorstellung nicht erwähnt wird. In einem Kleinverlag erschienen ist die Titelgeschichte eine dunkle Post Doomsday Story beginnend mit einem Anschlag mit einer schmutzigen Bombe auf einen Freizeitpark und endend in einem der Flüchtlingslager in der Nähe der kanadischen Grenze. Die Autorin beschreibt die Flucht einer attraktiven Mutter und ihrer Tochter nach Norden. Während die Tochter eindimensional bleibt, ist es die Mutter, welche komplex charakterisiert wird. Als sie einen jüngeren Mann treffen, versucht die Mutter ihn mit Sex an die Gruppe zu binden. Die Stimmung ist dunkel und die Autorin baut ausreichend Spannung auf. Der Überlebensakt, von Kampf kann man nicht richtig sprechen, ist überzeugend geschildert und das Tempo ist zufrieden stellend. Und doch fehlt der Geschichte vor allem Tiefe. Die Mutter ist angesichts ihrer Attraktivität eine Opportunistin, welche durchaus mit Körpereinsatz bereit ist, das Beste für sich und ihre Tochter zu erreichen. Ihr hilft, dass sie viele Jahre nach ihrer Flucht aus dem Elternhaus auf der Straße gelebt hat. Sie ist nicht unsympathisch und mit ihren pragmatischen Ansichten Dreh- und Angelpunkt der Story, dessen Plot aber eher abrupt mit einem Augenzwinkern endet. Der Leser erfährt nicht mehr über die Katastrophe und trotz der immer wieder angeblich barbarischen Situation dort draußen werden zu wenige brutale Szenen beschrieben, aus denen eine unmittelbare Bedrohung der beiden Frauen erkennbar ist. Alleine ein Landstreicher mit einem Wagenheber reicht angesichts deutlich dunklerer Storys wie „The Road“ nicht mehr aus, um die Leser zu schockieren.

 Auch wenn die drei Geschichten Schwächen aufweisen, überzeugen sie vor allem durch ihre Vielschichtigkeit und den Mut, alten Ideen neue Hüte aufzusetzen. Vor allem Indrapramt Dass fremde Wesen sind die Lektüre dieser „Forever“ Ausgabe Wert. Gemeinsam haben die drei Geschichten, dass sich die Protagonisten jeweils neuen Herausforderungen stellen müssen und dabei erkennen, dass es wichtig ist, sich vor allem auf die eigenen Erfahrungen zu verlassen und bei den Entscheidungen konsequent zu bleiben, welche sie selbst getroffen haben.

E Book, 112 Seiten