Daedalos

Ellen Norten & Michael Siefener

Michael Siefener und Ellen Norten gehen ausführlich auf die Geschichte des „Story Readers für Phantastik“ ein, den Hubert Katzmarz zwischen 1994 und 2002 in insgesamt dreizehn Ausgaben herausgegeben hat. Alle Kurzgeschichten dieser Ausgaben sind im Anhang noch einmal aufgeführt.

 Jede der Geschichten wird mit einigen treffenden Bemerkungen sowohl zu der Ausgabe, in welcher die Kurzgeschichten erschienen ist als auch zu der Autorin oder dem Autoren eingeleitet. Dabei sind einige Schriftsteller mehrfach in der Sammlung vertreten.

 Eddie Angerhuber beginnt mit „Der Hund mit den goldenen Haaren“.  Es ist eine dieser bizarren Krimigeschichten, welche die Italiener den Giallo nennen. Ganz bewusst scheint sie auch in Italien angesiedelt zu sein. Ohne zu viel vom Plot zu verraten ist der gestörte Täter im Grunde gleichzeitig auch ein Opfer. Diese Doppeldeutigkeit zeichnet inklusiv der brutalen Morde an Frauen eben diese besondere italienische Krimigattung aus. Aber ihr Einfluss reicht auch in die Literatur. Eddie Angerhuber bemüht sich, auf der einen Seite die wahre Identität des Täters zu verschleiern, auf der anderen Seite aber auch dreidimensionale, wenn auch bizarre Persönlichkeiten zu zeichnen. Ein solider Auftakt, der aber in einigen Punkten auch rückblickend, nicht während der eigentlichen Lektüre vertraut erscheint.

 Die Autorin ist die einzige Schriftstellerin, welche das „Daedalus“ Magazin eine besondere Ausgabe mit insgesamt fünf Texten widmete. „Das unverwundbare Abbild“ ist dabei eher eine klassische Geschichte. Die Erzählerin berichtet von ihren Taten. Als Jugendliche war sie mit einer ausländischen Außenseiterin befreundet, im Alter hat sie ein Versprechen vergessen und wird postwendend bestraft. Keine Idee ist wirklich neu und der Ablauf zwar nicht vorhersehbar, verläuft aber in geordneten Bahnen. Trotzdem reizt die Story durch die Erschaffung einer vordergründig modernen, hintergründig morbiden Fassade, hinter der sich wie bei modernen Horrorautoren der Wahnsinn des Anderen verbirgt. 

 Hinter dem Pseudonym Bertram Kuzzaths verbirgt sich der Herausgeber des Magazins. Der Titel seiner intensiv geschriebenen Kurzgeschichte ist unglücklich gewählt. „Die Gedankenfresser“ verrät zu viel über ein wichtiges Plotelement, das der Ich- Erzähler vor dem eher stereotypen Epilog dem Leser verrät. Dabei ahnt man schon sehr viel länger die Zusammenhänge zwischen der „Freundschaft“ zweier Schriftsteller, von denen einer plötzlich eine Schreibblockade hat. Auch wenn der Autor die Ereignisse in die Form eines offenen Rahmens packte, kann er den schlecht ausgewählten Titel seiner Arbeit in dem überzeugend verfassten und von einer sehr lebhaften Sprache profitierenden Text nicht mehr ausgleichen.

 Träume, Alpträume und Visionen spielen in einer Reihe von Geschichten dieser Anthologie teilweise dominierende bis erdrückende Rollen. „Danäus“ aus der Feder Christian von Asters erzählt die Geschichte eines Wissenschaftlers, der sich aus gesundheitlichen Gründen in den Vorruhestand verabschieden muss und beim Studium seiner griechischen Schriften auf einen besonderen Gott trifft. Der Leser ist der festen Überzeugung, dass er die Pointe kennt. Neben den gut gezeichneten Charakteren lebt die Story aber vor allem von der abschließenden doppelten Wendung, die ohne zu viel zu verraten den bisherigen Plotverlauf auf der einen Seite auf den Kopf stellt, aber auch auf der anderen Seite konsequent zu Ende bringt.

 „Lebendig verdaut“ von Michal Tillmann scheint bei der berühmten Geschichte Ambrose Bierces anzusetzen und trägt die Handlung dann doch mehr in Lovecrafts Reich. Ein Mann flieht in die unwirtlichen Berge, weil er ein Verbrechen begangen hat, das mit dem Tod durch Erhängen bestraft wird. Was er allerdings in den Bergen findet, ist schrecklicher als dieser Tod. Stimmungsvoll, geradlinig immer grotesker werdend verbindet der Autor eine bodenständige Handlung mit zahllosen Mythen.

 Werner W. Munk präsentiert mit „Speerwerfer“ eine märchenhafte Variation der Weird Fantasy Fictin. Vor langer Zeit hat ein riesiger Vogel die Prinzessin entführt. Die Männer der kleinen Siedlung bereiten sich auf den Tag der Wiederkehr des Vogels vor. Als ein anderes Tier über dem Dorf erscheint, entschließt sich der beste Speerwerfer, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Sehr kompakt und stimmig mit einem immer bedrohlicher, dunkler werdenden Tenor liest sich Werner W. Munks Geschichte gut, aber der Handlungsverlauf erscheint lange Zeit auch vorhersehbar. Vor allem entfaltet sich die emotionale Zwischenebene durch den distanzierten, grundsätzlich pragmatisch effektiven Schreibstil zu wenig.

 Michael Siefeners „Vallis illa“ verfolgt eine ähnliche Strategie, wobei der Autor ein gutes ablenkendes Element in die Handlung eingebaut hat. Nach dem unschönen Ende einer Beziehung kehrt ein junger Mann in das Elternhaus zurück, das inzwischen zu einer kleinen Pension umgebaut worden ist. Die beiden Mitbewohner sind seltsam. Er begegnet nicht erklären Phänomenen, wie drei garstigen alten Damen, die niemand anders als er sieht. Die Grenze zwischen Realität und Alpträumen beginnt mehr und mehr zu zerbröckeln und eine „Flucht“ aus der Straße scheint unmöglich. Die Pointe ist nicht unbedingt originell oder innovativ. Zu oft ist diese klassische Idee verwandt worden. Auf der anderen Seite ist allerdings die Reise, der Weg bis zur finalen Begegnung gut geschrieben und beschrieben worden. Verstörende Elemente lassen am Verstand des Protagonisten zweifeln, wobei dessen eigentliche Handlungen realistisch und logisch sind. Es ist schwer, am Ende dieser Reise etwas Neues zu präsentieren, aber Michael Siefener gehört die Ehre, das er die Art des Weges ausgesprochen gut getarnt hat.     

 Krankheiten sind ein wichtiges Thema. Andreas Fieberg konzentriert sich in seiner kompakten Story „Wartezimmer“ auf den Moment davor. Er beobachtet die alltäglichen, dem Leser vertrauten Abläufe und hinterfragt die Fähigkeiten des Arztes, der mehr und mehr zu einer Art Phantom wird. Die Pointe ist passend und doppeldeutig zugleich.

 Ärzte sind nicht immer die Handlanger der Medizin, wie Uwe Voehls stimmungsvolle, aber abschließend auch vertraut endende Story „Die Alten von Arkheim“ aufzeigt. Es ist eine weitere Story, die sich an Lovecrafts Stimmungen anlehnt und das Morbide jenseits der tatsächlich beschriebenen Handlung manifestieren lässt. Ein Arzt wird als Urlaubsvertretung nach Arkheim geholt. Eine kleine Alptraumstadt mit markanten Kranken, die im Grunde nur mit Morphium geheilt werden. Mehr und mehr ertränkt die einzigartige „feuchte“ Atmosphäre die Gedanken des Arztes, der hungernd und stetigem Whiskeykonsum ausgesetzt in den Wahnsinn getrieben wird. Oder hat er schon die Schwelle der Realität überschritten? Uwe Voehl kann mit wenigen Worten, mit einzelnen Beschreibungen eine morbide Atmosphäre des Grauens erzeugen, welche nicht nur die innerlich schwachen Protagonisten einfängt und aus der es im Grunde kein Entkommen mehr gibt.

 Das „Daedalos“ auch von Beginn an eine Art Forum gewesen ist, zeigen die nächsten drei Geschichten. Sie sind inspiriert von H. P. Lovecrafts „Die Musik des Erich Zann“. Es empfiehlt sich, diese unterschätzte Geschichte vor der Lektüre der Arbeiten Marco Frenschkowski, Malte S. Sembten und schließlich Ingo Schröter noch einmal zu lesen. Viele sanfte Anspielungen wie in Marco Frenschkowskis „Die Flöten Azatoths“ werden offensichtlicher. Die Zwischenbemerkungen fassen die wichtigen Aspekte zusammen, aber um die Atmosphäre der Vorlage wie auch der drei aufeinander aufbauenden Würdigen einzuatmen, lohnt es sich, mit Lovecraft anzufangen. Frenschkowski führt dessen Text im Grunde weiter. In einem Abrisshaus werden die Aufzeichnungen Felix Zanns gefunden, der vor allem auf seinen Vater eingeht. Mehr und mehr schleicht sich der Wahnsinn in dessen bislang hartes, aber auch geordnetes Leben. Vor allem, weil wie bei Lovecraft der Vater der Versuchung unterliegt, eigene Forschungen in den Bereich des Mysteriösen zu starten und schließlich im Grunde von den Fanfaren des jüngsten Gerichts abgeholt zu werden.

 Malte S. Sembten hat sich von dieser stimmungsvollen und einfühlsam geschriebenen Story in der Nullnummer des „Daedalos“  Magazins inspirieren lassen, um mit „Morbus Azatoth“ eine Fortsetzung zu verfassen. Intensiv geschrieben zeichnet der Autor auch den langsamen Verfall eine anfänglich unscheinbaren, sympathischen Bücherwurms, der seinen Freund in Hamburg besucht, um eine Sammlung alter Schriften zu katalogisieren. Das Ende hat der Prolog schon vorweggenommen, es geht nur um den Weg dahin. Malte S. Sembten steigert das Tempo kontinuierlich. Aufgrund der Lektüre „Die Flöten Azatoths“ ahnt der Leser den Grund für die Obsession, aber viele kleine Szenen wie der Besuch auf der Schanze in einem CD Laden bereichern die kurzweilig geschriebene Story.

 Ingo Schröter –  alleine die Informationen über den Autoren sind eine eigene Geschichte wert – nimmt in „Azatoths Kampf“ den Faden noch einmal auf und zeigt die Auswirkungen der wahrscheinlich von Malte S. Sembtens Charakter hinterlegten Aufzeichnungen auf seinen Arzt. Der Handlungsverlauf ist ja durch den sich stetig steigernden Wahnsinn bestimmt. Aber Ingo Schröter präsentiert am Ende eine pragmatische Lösung, die mit Augenzwinkern den Leser anfänglich verstört, dann zum Nachdenken und zumindest die jüngere Generation auch zum Lachen bringen wird. Stilistisch nicht so intensiv und atmosphärisch dicht wie die ersten beiden Storys handelt es sich bei „Azatoths Kampf“ aber um einen guten Abschluss dieser über mehrere „Daedalos“ Ausgaben verteilte Trilogie.

 Marco Frenschkowskis zweiter Beitrag „Das Tor der Flamme“ ist äußerlich wie inhaltlich  klassische Weird Fiction. Ein Haus brennt ab, vorher hat ein junger Mann mit einem Papier in der Hand das Gebäude des alten Buchsammlers verlassen. Den Hauptteil der Geschichte machen die Tagebuchaufzeichnungen des jungen Mannes aus, der mehr und mehr der arabisch erscheinenden Karte und dem möglichen Übergang in die andere Welt verfällt. Grundsätzlich ist das Niveau der „Daedalos“ Geschichten durchgehend ausgesprochen hoch. Daher fällt es schwer, eine solide, aber auch sperrig wirkende Story aus den fast einhundert publizierten Kurzgeschichten besonders hervorzuheben. Der Text wirkt nicht rund genug, um abschließend zu überzeugen. Die Exposition erscheint absichtlich zu verklausuliert, die Tagebuchaufzeichnungen sind ein bekanntes, manchmal auch markantes Stilmittel dieses Subgenres, um den geistigen Verfall der Protagonisten aus erster Hand zu beschreiben.   

 Frank Duwald eröffnet den Bogen der Weird Science Fiction mit „Gespräche mit der Maschine“. Der Erzähler lernt auf einer Messe einen Mann kennen, der eine besondere biomechanische Maschine entwickelt hat, mit welcher er kommunizieren kann. Der Mann und seine Schöpfung stoßen den Erzähler genauso ab wie sie ihn anziehen. Frank Duwald greift auf eine Reihe von grotesken, an Giger erinnernden Bildern zurück, wobei sich einen Schritt zurücktretend die Logik dem Grotesken beugt. Spätestens mit dem vorletzten Besuch hätte die Öffentlichkeit entweder den seltsamen Spuren folgen oder die Maschine mehr Einfluss als erwartet auf die Umwelt haben müssen. Aber Frank Duwald überlässt es der Ambivalenz, aber auch der krankhaften voyeuristischen Phantasie des Erzählers, vielleicht auch des Lesers.

 „Gurd“ von Jörg Isenberg ist eine zweite dem Bereich der biomechanischen Weird Fiction zuzuordnende Geschichte. Aus der Perspektive der Katze Gurd wird ein vielleicht wahnsinniger oder nur außerirdische Fremder beschrieben, der Menschen entführt und sie in die MASCHINE steckt, mit welcher er die Weltordnung aufrechterhalten will. Bis ein Mensch zu rebellieren beginnt. Groteske Bilder, eine spannende Atmosphäre mit einem allerdings zu offenen Ende dominieren diese alleine aufgrund der ungewöhnlichen Perspektive interessante Geschichte.

 Monika Niehaus durchbricht den Reihen von Weird Geschichten mit einem frühen Besuch in Donnas Kaschemme, die nicht nur in den Miniaturen der phantastischen Bibliothek Wetzlars, sondern zahlreichen anderen Anthologien vertreten sind. „Mit dem Siegel des großen Juracomputers“ ist eine für dieses amüsante Subgenre typische Geschichte. Ein Besucher erzählt von seinem langen Weg in die Kaschemme. Das ein Quobbel im Dienste seiner an eine Qualle erinnernden Mutter versucht, aus Fehlern Profit zu schlagen, um dann geschlagen zu werden, ist ein typisches Merkmal dieser Anything Goes Storys, in denen tragische oder weniger tragische Geschichten bei reichlich Alkohol glorifiziert werden. Neben den warmherzigen, nicht unbedingt subtilen Humor sind die Wendungen der kompakten Storys lesenswert.  

 Auch Boris Koch „Terraforming“ nutzt eine klassische Idee der Science Fiction. Die wenigen Siedler versuchen den roten Planeten auch unter Biersponsoring zu bändigen, während die Heimatwelt eine Katastrophe ereilt. Boris Koch versucht das Dunkle ein wenig durch Humor zu vertreiben, allerdings erscheinen seine Protagonisten mit einem zu einfachen, zu breiten Pinsel gemalt zu sein. 

 „Das lange Warten“ von Andreas Fieberg konzentriert sich auf die leider erahnenswerte Pointe. Zwei Raumfahrer stranden auf einer fremden Welt, der Eine sieht nur Einöde und verlassene Städte, der Andere leben. Eine lebensechte Statue weist dem Einen der Gestrandeten den Weg. Stringent, unterhaltsam und atmosphärisch stimmig, aber nicht gänzlich überzeugend in der Originalitätsnote.

 Martin Schemms „Mirage“ beschreibt die besondere Wirkung einer neuartigen Droge. Das Schicksal des Protagonisten erfährt der Leser schon aus einem entsprechenden Zeitungsausschnitt. Der Weg dahin wird solide, sich an die alten Meister wie unter anderem auch Hogdson angelehnt beschrieben, aber der Funke will aufgrund der eher eindimensionalen Zeichnung des Protagonisten nicht wirklich auf den Leser überspringen. 

 Sven Klöppings „Speedway to Hell“ schließt nicht nur den Science Fiction artigen Teil der Anthologie, sondern den Band selbst ab. Expressiv, grell und literarisch laut überträgt sich das aufgedrehte Verhalten des Erzählers auf den Leser. Allerdings impliziert Sven Klöpping mehr als das er seine Gedanken ausformuliert, so dass eine Art sprachlich umgesetztes visuelles Erlebnis zurückbleibt, das die Sinne, aber nicht unbedingt das Hirn befriedigt.

 „Das Sandmädchen“ von Malte Schulz – Sembten ist eine subversive dunkle Geschichte, deren Rahmen nicht gänzlich ausformuliert die perverse Phantasie der Leser beflügelt, während im Inneren eine Story ruht, die niemand seiner siebenjährigen Tochter in dieser Form erzählen würde. Überzeugende Protagonistin mit harten, aber innerlich auch weichen Gestrichen gemalt. Pervertiertes Alltagsleben, das auf dem schmalen Grat zwischen Heilung und Hölle hin und her wandert.

 Urängste spielen eine wichtige Rolle in AndreasKasprzaks „Von der Spinne, die kleine Jungen frisst“. Zwei Jungen werden einen Abend lang von ihren Eltern alleine gelassen. Der Strom fällt aus und der Sicherungskasten ist im Keller. Aus einem perfiden Spaß wird schließlich übernatürlicher Ernst. Aber das anfängliche Unbehagen sich zu Angst steigernd beschreibt der Autor ausgesprochen gut.

 Zu den dunkelsten Geschichten der Sammlung gehört Iris Hoths „Acheron“. Ein junger Mann erhängt sich eines Nachts in der Scheune seiner Eltern. Die Mutter reagiert apathisch. Die Zusammenhänge der Tat werden nicht gänzlich klar, aber der Tote scheint nur mit „befreiter Seele“ ins Reich der Toten überwechseln zu können. Die erdrückende nihilistische Atmosphäre der ersten Hälfte der Geschichte sticht aus der Anthologie heraus. Das Grauen wird sachlich und emotionslos und deswegen auch verstörend beschrieben. Die zweite eloquentere, aber auch ein wenig phantastischere Hälfte kann mit dem einem Leser die Luft abschnürenden Auftakt nicht mithalten.      

 „A Flor dos Sonhos“ von Frank W. Haubold ist eine stimmungsvolle Geschichte, deren Plot sich anscheinend nach dem Auftakt – ein Mann ohne Gedächtnis sucht in einer kleinen Stadt nach Spuren der eigenen Existenz – in den Bereich des Phantastischen abdriftet. Weder der Protagonist noch der Leser kann spätestens mit dem Buch auf dem Jahrmarkt und dem Gewinn der Blume der Träume unterscheiden, ob dunkle Erinnerungen hervordringen oder der Protagonist sich eine neue Vergangenheit erträumt. Frank W. Haubolds Stärke ist sein individueller wie intensiver Stil, mit dem er sich seinen Plots anpasst und die Geschichten wie eine Einheit erscheinen lässt. Die einzelnen Bilder sind eindrucksvoll, verführerisch und abschreckend zu gleich.

 Auch Ernst Wurdacks „Das Steinmännchen“ beschreibt entweder eine Wahlvorstellung oder beschwört die alten Mythen der gefährlichen Berge. Während das erste Ereignis gut vorbereitet worden ist, wirkt die zweite „Begegnung“ ein wenig zu pragmatisch. Der Einfluss des unheimlichen Steinmännchens wird zu wenig in den Plot eingebaut, so dass der Protagonist entschlossen wie naiv seinem bitteren Schicksal noch einmal entgegentreten muss. Wahrscheinlich hätte ein umfangreicherer Text mit einer besseren Einbindung in verschiedene Mythen der ganzen Geschichte besser getan.

 „Videodrome“ lässt mit einigen Einschränkungen aus Michael Siefeners „Der Träumer“ grüßen. Ein Kollege leiht einem unscheinbaren, in seinem langweiligen Leben gefangenen Buchhändler eine Videocassette, auf welcher nichts drauf ist. Anscheinend hat niemand wirklich das Band „sehen“ können. Das Leben des Mannes beginnt sich zu verändern, er fängt sich in Tagträumen, während den vorherigen Besitzern des Bandes schlimmes passiert. Stilistisch solide geschrieben wirkt der Plot allerdings viel zu mechanisch, um als eigenständige Geschichte überzeugen zu können. 

  Es finden sich in dieser „Daedalos“ Ausgabe auch zahlreiche Beispiele, das Kürzestgeschichten auch funktionieren können. Frank Festa macht mit „Das Erwachen“ den Anfang. Einem Handwerker kommt das Haus, in dem er arbeitet, seltsam vertraut vor. Der Autor muss die Erinnerungen und Emotionen des Protagonisten ein wenig biegen, damit der Plot funktioniert. Bei Carsten Schmitts „Der Puppenspieler“ ahnt der Leser die Pointe im voraus. Aber mit wenigen Worten erschafft er eine nihilistische Atmosphäre und baut Robert W. Cahmbers provokanten wie klassischen Weird Fiction Roman ausgesprochen gut in die Handlung ein. Unter seinem Pseudonym Bertram Kuzzath präsentiert der „Daedalos“ Herausgeber mit „Die letzte Nacht am Blauen See“ eine seiner sprachlich versierten, verspielten, im Grunde auch teilweise selbst verliebten Geschichten, deren Plot auf wenige Momente reduziert werden kann. Der Protagonist hat die Aufgabe, einen älteren Mann auf seiner letzten Fahrt an und später auf dem blauen See zu begleiten. Der See wird mehr und mehr zu einer Metapher, der Ende ist pragmatisch.

Ulrike Wyches „Schläfer“ ist eine der wenigen Storys der Anthologie, die klassische Horrorelemente nutzen. Allerdings ist der Plot zu komprimiert, entfaltet sich zu wenig überraschend, als ein echter Spannungsbogen entsteht. Zu sehr bewegt sich die Autorin ein wenig an den Klischees, die sie mit ihrer Anspielung auf Nancy Collins heute fast vergessene Neo Vampir Romane heraufbeschwören möchte. 

 Jörg Weigand verrät in seiner kurzen Story „Meister Eberhards letztes Bild“ vorzeitig die Pointe. Aber das spielt bei dieser stimmungsvollen, melancholisch und optimistisch zu gleich geschriebenen Miniatur nur eine untergeordnete Rolle. Das phantastische Element ist gut in die bodenständige Handlung eingebaut und wenigen Zügen entwickelt der routinierte Autor überzeugende Charaktere.

 Illustriert ist der Band wie das ursprüngliche Magazin durch alte Graphiken, Zeichnungen und Bilder aus früheren Jahrhunderten. Dabei muss es sich nicht unbedingt um phantastische oder groteske Themen handeln. Manchmal ist es auch nur eine eindrucksvolle Landschaft. Aber der Kontrast zwischen der Weird Fiction und dem Streifzug durch die Kunstvergangenheit funktioniert auch in diesem Sammelband ausgezeichnet.

 Die Anthologie ermöglicht es einer neuen Lesegeneration, „Daedalos“ entweder das erste Mal kennen zu lernen oder angesichts der kleinen Auflage des semiprofessionellen Magazins die Sammlung teilweise zu vervollständigen. Alle Geschichten sind von einer mindestens überdurchschnittlichen literarisch stilistischen Qualität, auch wenn einige Autoren auf bekannten, aber trotzdem auch markante Themen zurückgreifen. Die literarische Reise durch den Story Reader der Phantastik ist es aber wert, viele heute bekannte Autoren zu ihren literarischen Anfängen zurückzuverfolgen oder viel mehr heute in der Versenkung verschwundene Namen wieder oder neu zu entdecken. Eine bemerkenswerte und mit viel Liebe sowie Respekt Hubert Katzmarzs gegenüber zusammengestellte Anthologie, die Hoffnung macht, dass in naher Zukunft eine Reinkarnation des Magazins in Form eines literarischen Almanachs mit neuen und weiteren schon in „Daedalos“ veröffentlichten Texten publiziert werden könnte. 

DAEDALOS 1994–2002
Eine literarische Reise durch den »Story Reader für Phantastik«
Außer der Reihe 26
p.machinery, Murnau, November 2018, 316 Seiten
Paperback: ISBN 978 3 95765 148 8 – EUR 19,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 7438 9534 8 – EUR 9,99 (DE)