Stalker

Arkadi & Boris Strugatzki

Der Heyne Verlag legt zum insgesamt vierten mal den bekannten und markanten Roman „Picknick am Wegesrand“ der Brüder Strugatzki auf deutsch auf.  Der Roman erschien das erste Mal schon 1979 zeitgleich mit der Verfilmung „Stalker“ von Andrej Tarkowski im Verlag Neues Berlin. 1981 erfolgte mit einem ausführlichen Nachwort Stanislaw Lems die westdeutsche Taschenbuchveröffentlichung im Suhrkamp Verlag. Im 21. Jahrhundert erschien der Roman ein weiteres Mal als Bestandteil der Werksausgabe im Heyne Verlag. Wenige Jahre später wird das Buch noch einmal separat veröffentlicht.

 Andrej Tarkowskis „Stalker“ hat mit seinem markanten Inszenierungsstil Teile des empfehlenswerten Buches überdeckt. Tarkowski hat absichtlich auf eine chronologische Erzählung verzichtet und springt zwischen der Schatzjagd dreier unterschiedlicher Menschen und deren Vergangenheit hin und her. Diese Jagd nach der Goldenen Kugel, einem mystischen Gegenstand in der Zone, der allmächtig jeden Wunsch erfüllen kann, nimmt vielleicht die letzten zwanzig Prozent des vorliegenden Romans ein.

 Bis dahin bauen die beiden Russen die Geschichte einer möglichen Landung außer- wie überirdischer Wesen auf verschiedenen Punkten der Erde wie ein Fugenroman auf. Immer wieder wird auf aus den ersten Abschnitten bekannte Charaktere oder wie im letzten Fall dessen Sohn zurückgegriffen. Die verschiedenen semiwissenschaftlichen Informationen werden erst gegen Ende des Handlungsbogen zusammengesetzt und ergeben ein Bild, das verschiedene Interpretationen zulässt.

 Absichtlich leiten die Strugatzkis den Roman mit einer fast humorvollen wissenschaftlichen Betrachtung ein. Anscheinend gab es eine Landung von Außerirdischen an verschiedenen Punkten der Erde, die eher wie ein Stein flach über das Wasser geworfen wirken. An diesen Ladenstellen haben sie entweder Gegenstände verändert oder einfach nur ihren Müll zurückgelassen.

 Im Laufe des Buches werden verschiedene Theorien diskutiert, wobei die „Picknick am Wegesrand“ Mythologie sich sogar doppelt. Nach zwanzig Jahren Leben mit der Zone fahren die Menschen an deren Rand und veranstalten „wüste“ Partys, um den Schauer dieser ökologisch veränderten von Patrouillen bewachten Gebiete einzuatmen. Was die Fremden begonnen haben, setzen die Menschen auf eine dem Sozialismus widersprechende art und Weise fort.

 Um diese Zone haben sich unterschiedliche Menschen angesiedelt. Grundsätzlich erst mal die eigentliche Bewohner, die an den Rand getrieben worden sind. Sie leben von und mit der Zone, in dem sich als Schatzjäger verdingen und illegal Gegenstände aus dem Gebiet herausholen. Die Gefahren werden dabei nicht selten mit Begriffen wie „Fliegenklatsche“ oder Grütze“ verniedlicht, sind aber tödlich. Die Gravitationsveränderungen können an den Flugbahnen von Schrauben erkannt werden und nicht selten reicht ein Windhauch, um die erfahrenen Schatzjäger zu warnen. Der Diebstahl von Gegenständen aus der Zone ist verboten und mancher Schatzjäger hat wenn nicht mit seinem Leben, so zumindest mit einigen Jahren Gefängnis bezahlt.

 Aber die Bezahlung von den halbseidenen Geschäftsleuten ist eben so verführerisch, dass sich immer wieder Menschen aufmachen. Manchmal auch nur, um es sich selbst zu beweisen.

 Die Strugatzkis greifen in ihrem Handlungsverlauf immer wieder auf Roderic zurück, der mit seiner Frau Gutta und ihrer Tochter – Äffchen genannt – in der Nähe der Zone wohnt und inzwischen als einer der erfahrenen Schatzsucher gilt. In einem dramaturgisch geschickt beschriebenen Abschnitt hat er einen älteren Mann ohne Beine aus der Zone geholt, der in die Grütze getreten ist.   

 Stanislaw Lem entwickelt in seinem an ein Essay erinnernden Nachwort verschiedene Theorien hinsichtlich des Inhalts der Geschichte. Dabei streift er erst gegen Ende die Idee einer mythologischen Parabel. Das reine Picknick am Wegesrand mag der Pole nicht gleich akzeptieren und schiebt die These eines Unfalls der Fremden inklusiv eines entsprechenden Absturzes hinter her. Diese Idee negiert aber das Unfassbare, das die Strugatzkis vom ersten Moment an Arthur C. Clarke und John Wyndham folgend etablieren haben.

 In der Zone scheinen andere Naturgesetze zu herrschen. Die Zone ist für Menschen generell gefährlich. Die Zone verbirgt magische Gegenstände, wobei die Wunsch erfüllende Kugel die Ultima Ratio ist. Ein Ring wird zu einem Perpetuum Mobile, im Grunde die perfekte Lösung für die Menschheit. An einer anderen Stelle sterben mehrere Duzend Menschen, hunderte werden verletzt, als die Grütze unter scheinbar kontrollierten Bedingungen in einem Labor austritt und sich wie ein nicht zu kontrollierender Atomkern in Richtung Erdinneres zu fressen droht.

 Aber die Zone steht auch stellvertretend für jegliches kapitalistisches Chaos in einem nur vordergründig geordneten Land. Seitdem es Menschen gibt, lebt in ihnen auch der Drang, Abenteuer zu erleben, aber vor allem auch auf unkonventionelle Art und Weise reich zu werden. Die Behörden sehen es als Diebstahl an, die Schatzjäger aber nur als das Auffinden und Bergen von „magischen“ Gegenständen, welche durch die Landung der Fremden verändert worden sind. Diese Artefakte gehören niemanden mehr. Daher sind sie in der Theorie frei zugänglich, auch wenn die Schatzjäger die Patrouillen an den Grenzen der Zone überwinden müssen.

 Ihr Vorgehen ist friedlich. Roderic nimmt dem einen Jungen einen Revolver ab. In der Zone braucht man keine Waffen.

 Um diese Zone herum hat sich mit den Kneipen und anscheinend auch Bordellen eine Schattenwirtschaf etabliert. Später kommt der Sensationstourismus hinzu. Nach mehr als zwanzig Jahren spielt es auch keine Rolle mehr, ob die Fremden wirklich dort gelandet, abgestürzt oder einfach nur ihren Müll über Bord geworfen haben. Die Zone hat eine eigene „Persönlichkeit“ entwickelt, wie auch die Menschen in ihrer Umgebung sich verändert haben.

 Die Strugatzkis geben keine Antworten. Sie stellen fortlaufend Fragen und das Ende fordert mehr als eine Interpretation heraus. Es ist bezeichnend, dass der Weg zur alle Wünsch erfüllenden Kugel die eigentliche Herausforderung ist, während die Begegnung schließlich die Menschen zwingt, das Gedächtnis zu löschen und unvoreingenommen ihr gegenüber zu stehen.

 Auch wenn sich die Strugatzkis den klassischen Elementen des Genres inklusiv einer gottgleichen Ersten Begegnung bedienen, erzählen sie vor allem die rauen Geschichten von Menschen, die nur sehr gefährlicher Arbeiter sich eine kleine Oase der Seeligkeit erschaffen, in welcher sie frei sein können. Dieses kleine Reich muss kontinuierlich nicht nur gegen die Schergen des Staates, sondern auch andere Diebe verteidigt werden. Es ist ein hartes Leben, herausfordernd, aber auch befriedigend, denn niemand will den Ort verlassen. Aber das ist nur eine Interpretation dieses zeitlosen Buches. Es gibt ausreichend gefährliche Ort auf der Erde, die keine Landung der überirdischen Außerirdischen brauchen, um Menschen wie Motten ins Licht zu ziehen.

 Viele sehen in Tarkowski eigenwilliger, aber visuell faszinierender Interpretationen einen Schlüssel zu diesem Buch, aber durch die einzelnen Fugen ist die literarische Vorlage „Picknick am Wegesrand“ viel interessanter. Der Plot entwickelt sich über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren beginnend mit der im Off stattfindenden Landung und endend schließlich an einem Tor zu einer möglicherweise anderen, aber inneren Welt. Der Film ist eine ideale, sich auf die letzte Mission konzentrierende Ergänzung dieses lesenswerten, herausfordernden und intellektuell stimulierenden Werkes, das einen guten Einstieg in das umfangreiche, immer surrealistischer werdende Werk der populärsten russischen Science Fiction Autoren darstellt.   

Stalker

Aus dem Russischen von M. David Drevs
Originaltitel: Пикник на обочине
Originalverlag: Verlag Sidorowich
Paperback , Broschur, ca. 288 Seiten, 13,5 x 20,6 cm
ISBN: 978-3-453-32101-4
Heyne Verlag