Der vierte und vorletzte Roman um „Die Lange Erde“ ist in einigen Teilen ein Kuriosum. Durch die zahlreichen aus den ersten drei Büchern übernommenen Charaktere ist der Text stark im Lange Erde Kosmos verankert. Und trotzdem unterscheidet sich das Buch positiv von den ersten drei Teilen.
Stephen Baxter und Terry Pratchett sprechen zwei sehr unterschiedliche Aspekte an. Bislang konnten die Charaktere nach Osten und Westen treten, um eine neue weitere Erde zu entdecken. Irgendwo hörte die Zählung bei 170 Millionen Erden auf, wobei sich die Entfernung von der ersten, der Datumserde gleichzeitig auf die Lebensqualität, fast auf die Substanz der Parallelwelten negativ auswirkt. Im ersten Abschnitt entdecken die Protagonisten, auch nach Norden und Süden zu reisen. Die Folgen werden nicht weiter erläutert, aber alleine der Gedanke, dass die Menschen auch die beiden anderen Himmelsrichtungen nach Jahren der Entdeckungen nutzen, öffnet weitere Türen. Diese Tore werden im Nachgang wieder geschlossen. Das Modell der verschiedenen Perlenketten mit einer Verknüpfung auf einer der langen Erde wird im Gegensatz zu den ersten drei Romanen mit den Weiten der langen Erde nicht mehr unbedingt als Chance, sondern als eine Art Bedrohung beschrieben, die auf eine für Stephen Baxter untypische nicht technische Art und Weise pragmatisch abgewendet wird. Das ist vor allem in Hinblick auf die ganze Serie viel zu simpel und verschenkt neben zwei relevanten Protagonisten unglaublich viel Potential. Wäre nicht die emotionale Ebene des Buches, dann könnte ein aufmerksamer Leser von Ermüdungserscheinungen sprechen, zumal Stephen Baxter das Buch wegen Terry Pratchetts fortschreitender Krankheit und seinem frühen Tod überwiegend alleine konzipiert und geschrieben haben soll.
Ein weiterer Aspekt ist die Zeit. Auch wenn die Protagonisten zu Millionen von Erde in unterschiedlichen Stadien der planetaren Evolution reisen, bewegen sie sich immer auf einer Zeitebene. Im zweiten Abschnitt des Buches gehen die beiden Autoren mehr als einhundertfünfzig Jahre in die irdische Vergangenheit der Datumserde und implizieren, dass die natürlichen Springer als Vorläufer der vor allem im zweiten Buch angesprochenen „Next“ Generation eben nicht zufällig plötzlich da waren, sondern mehr als einhundertfünfzig Jahre durch eine strenge genetische Auswahl im „Untergrund“ gezüchtet worden sind. In einem der zahlreichen satirisch literarischen Exzesse implizieren die beiden Autoren, dass diese Springer im Ersten und Zweiten Weltkrieg Verwundete von den Fronten geholt haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg könnte auch ein James Bond im Dienst ihrer Majestät ein Springer gewesen sein. Die Urväter haben sich aber noch geweigert, für die Krone Mordaufträge auszuführen.
Auf der einen Seite ist die Hintergrundgeschichte der natürlichen Springer im Gegensatz zu technisch so simplen, aber viele Welten öffnenden Box aus dem ersten Buch faszinierend und spannend zu erfahren. Auf der anderen Seite wirkt der Kosmos der langen Erde durch eine konsequente und kontinuierliche Erklärung einer Reihe von phantastischen Phänomenen auch weniger geheimnisvoll. Vor allem wenn jede erklärende Aktion von einer Reaktion initiiert wird. Die Next werden unbedingt benötigt, um eine neue Gefahr von der langen Erde abzuwenden.
Auf einer der Welten entdeckt ein Junge durch einen Zufall unter der paradiesischen Oberfläche einen Gang, in dem Insektendroiden hausen. Es kommt nach und nach zu einer Art Tauschhandelt. Erst später findet man heraus, dass die Insekten aus ihrer Galaxis kommend gigantische Dyson Sphären bauen und damit die Existenz nicht nur diesen Planeten, sondern aller langen Erden bedrohen könnten. Auch wenn die Dyson Sphäre inzwischen in der modernen Science Fiction zu einer Art Perpetuum Mobile der Bedrohung durch Außerirdische mittels gigantischer Bauten geworden ist, bleiben Baxter und Pratchett hinsichtlich der Motivation der Fremden erstaunlich vage. Dieser Invasionsaspekt wirkt nach der Besiedelung des Mars; der Entstehung einer neuen Supermenschengeneration und vor allem die Abnabelung einer künstlichen Intelligenz wie ein weiteres Science Fiction Versatzstücke, das unbedingt eingebaut werden muss. Vor allem weil die Isolation der Außerirden und damit dieser besonderen Variation der langen Erde nur durch das Opfer eines besonderen Charakters erfolgen könnte.
Alleine dieser drei Ideen hätten an einer anderen Stelle ganze Trilogien gefüllt. Den Leser der langen Erde Serie kommt entgegen, dass Terry Pratchett eher ein Meister des Dialogs ist, während Stephen Baxter komplexe Ideen zwar in voluminösen Romanen oder Doppelbänden versteckt, aber auch auf den Punkt kommen kann. Frustrierend an „Das lange Utopia“ ist, dass die Autoren in diesem vierten Band zu viele dieser drei Ideen anreißen, sie aber anschließend weder extrapolieren – die Schritte nach Norden und Süden – oder angesichts der Brisanz – die Next sind Opfer von gezielten Manipulationen- zu pragmatisch einsetzen. Abschließend bleibt in dieser Hinsicht nur die Invasionsgeschichte übrig und hier machen die Autoren aus dem lange unter- wie oberirdischen Miteinander inklusiv verschiedener Tauschhandelsaktionen schließlich eine existentielle Auseinandersetzung um die Zukunft der ganzen Menschheit. Zwar verzichten Stephen Baxter und Terry Pratchett auf die Klischee von kriegerischen Auseinandersetzungen, aber der Grunde ist relativ simpel. Die Menschen sind den insektoiden Robotern und ihren Dysonsphären im Grunde egal, weil sie mit ihnen nichts positiv anfangen können. Das ist vielleicht die in dieser Hinsicht am meisten pragmatische Invasion von Fremden auf einen von Menschen bewohnten Planeten.
So wirkt auch der Titel „Das lange Utopia“ ein wenig befremdlich. Auf keiner der im Durchschnitt weniger als in den Vorbänden überschrittenen Welten gibt es eine perfekte, eine utopische Gesellschaft. Die einzelnen dem Leser vertrauten Protagonisten suchen Ruhe und Frieden, sondern sich von ihren Familien, Verwandten oder einfach mitreisenden Nachbarn ab und versuchen sich in der Einsamkeit der unendlich langen Erde zu verstecken, aber sie finden kein sie zufriedenstellendes Paradies. Von einem Utopia ganz zu schweigen.
Sonst die ersten Romane der Serie standen ein wenig unter dem Motto, „man nimmt sich immer mit auf die Reise“. Nicht selten wurden die einzelnen Handlungsbögen unter dem fortwährenden Drang nach außen förmlich erdrückt. Immer gigantischere Zahlen, immer mehr Variationen der Erde, immer schnellere Fortbewegung, um am Ende nicht selten auf oder in der Nähe der Datumserde wieder zum Stillstand zu kommen.
Diese Schwäche; das Unterliegen der eigenen verführerischen Schöpfung haben die beiden Autoren im vierten und vorletzten Band der Serie positiv zu Gunsten der Weiterentwicklung vertrauter Charaktere abgelegt.
Joshua ist das verbindende Element. Es ist einer der wenigen Charaktere, der zu Beginn da war und das Ende der Serie um die lange Erde erleben wird. Inzwischen ist er in Ehren gealtert. Der Leser erfährt nicht nur mehr über seine Vorfahren in dem auf den ersten Blick aus dem Kontext fallenden Rückblick auch noch in Form von Notizen, sondern er sieht ihn vor allem als Mensch und als Vater. Zumindest als Vater ist er gescheitert. Wenn er mit seinem Freund an seinem Geburtstag zu einer weiteren Expedition aufbricht, kann sich der Leser des Eindrucks nicht verwehren, als wollten Baxter und Pratchett ihn und nicht andere Figuren opfern.
Lobsang als im Grunde Hommage an Isaac Asimovs Roboter – aus Wut spricht ihn Sally auch mit einem Namen aus Asimovs „Foundation“ Serie hinsichtlich eines komplexen Manipulators an – steht über allem. Er muss erkennen, dass die Pläne in der vorliegenden Form nur bedingt funktionieren, aber Pratchett/ Baxter tun ihm als Figur auch den Gefallen, dass sie auf den letzten hektischen Seiten vieles ordnen.
Sally lebt im Grunde glücklich wie abgeschieden auf ihrer Welt. Sie wird wider Willen wieder in das Geschehen einbezogen. Mit ihren sarkastischen Bemerkungen belebt sie die teilweise ein wenig gestelzt wie konstruiert wirkenden Dialoge. Sie ist das notwendige ausgleichende Element, das von den Weiten der langen Erde fasziniert und verstört zu gleich wird.
Hinzu kommt Stan. Ein Mitglied der neuen Generation der Springer. Sprungbrett und mögliches Ende einer geplanten evolutionären Entwicklung. Wie ein Mann geht er seinen Weg. Ohne zu viel zu verraten ist es schade, dass Stephen Baxter und Terry Pratchett auf der emotionalen Ebene nicht selten die Figuren gut für den Leser anreißen, aber irgendwann das Interesse verlieren.
„Das lange Utopia“ ist inhaltlich der am meisten ambitioniert konzipierte Band der Serie. Auch hinsichtlich der Bewegung der Protagonisten bemühen sich die Autoren, viel fokussierter zu agieren und den Leser nicht mit den Millionen von Möglichkeiten weiterhin zu überrollen. Als Buch wirkt der Plot allerdings zum Ende hin ein wenig zu bemüht abgeschlossen. Die einzelnen Versatzstücke fallen nicht zum ersten Mal in dieser Serie fast zu perfekt zusammen. Relevante Nebenhandlungsstränge wirken dadurch vernachlässigt und zu wenig angesichts ihrer Potentiale extrapoliert. Die lange Erde ist nicht müde, sie scheint nur ein wenig zu ruhen. Aber nicht in sich.