„Am Abgrund des Krieges“ ist nicht nur der zweite Roman aus der Feder Arkady Martines – hinter dem Pseudonym steckt die amerikanische Historikerin AnnaLinden Weller -; es ist auch der zweite Roman ihrer „Teixcalaan“ Serie nach dem ebenfalls bei Heyne veröffentlichten Band „Im Herzen des Imperiums“ und es ist das zweite Mal, das die Autorin mit dem HUGO als besten Roman ausgezeichnet worden ist. N.K. Jemisin hat in drei aufeinanderfolgenden Jahren für jeden Teil ihrer „Broken Earth“ Serie einen Hugo erhalten. Diesen Rekord kann Arkady Martine übertreffen, in dem sie als erste Autorin für ihre ersten Romane ggfs. dreimal mit dem HUGO ausgezeichnet wird. Aber nicht in aufeinanderfolgenden Jahren. Zwischen den Veröffentlichungen ist jeweils ein anderer Autor geehrt worden. Während N.K. Jemisin aber schon eine Reihe längerer Arbeiten vor ihrer mit dem wichtigsten SF Preis ausgezeichneten Serie verfasst hat, schrieb Arkady Martine unter diesem Pseudonym seit 2012 in erster Linie Kurzgeschichten.
Die Handlung von „Am Abgrund des Krieges“ setzt nicht unmittelbar, aber zeitnah an „Im Herzen des Imperiums“ an. In mehreren Interviews hat Arkady Martine angedeutet, dass sie den Plot ursprünglich als einen Roman konzipiert hat. Der Verlag würde abseits der Veröffentlichung von einer Art Duologie sprechen, die zu einer Serie jederzeit erweitert werden kann. Angesichts des komplexen Hintergrunds, aber auch der dreidimensional entwickelten Figuren empfiehlt es sich, die beiden Romane tatsächlich als eine Einheit zu betrachten und die Lektüre mit “Im Herzen des Imperiums” zu beginnen. Arkady Martine fügt dem Inhalt des zweiten “Roman” trotz der erfolgten getrennten Veröffentlichung nur wenige und dann eher den Plot weiterentwickelnde, aber nicht zurückblickende Hintergrundinformationen aus dem ersten Buch hinzu.
Die Handlung setzt einige Monate später ein. Die Außerirdischen greifen eine industrialisierte Kolonie an den Randbereichen des texicalaanlischen Imperiums an. Die Admiralin empfiehlt angesichts der schwer einzuschätzenden Gefahr den Versuch, mit den Fremden irgendeine Art der Kommunikation aufzubauen.
Als Spezialist wird Drei Seegras auserkoren. Inzwischen ist sie ein hoher imperialer Offizier. Da ihre Mission nicht in der Öffentlichkeit bekannt werden soll , schmuggelt sie sich an Bord eines nicht für Passagiere ausgerichteten Raumschiffs hinter die Frontlinien. Auf der Lsel Raumstation will sie ihre frühere Freundin, Vertraute und inzwischen Botschafterin Mahit Dzamare überreden, sie zu den Außerirdischen zu begleiten.
Arkady Martine baut von Beginn an politische und damit auch militärische Elemente in ihren Roman ein, ohne auf den kulturellen und damit auch sozialen Hintergrund ihrers Universums zu verzichten. Die Begegnung mit den aggressiven Fremden ist dabei für Science Fiction Stammleser das schwächste Element des Buches. Die Fremden scheinen über eine Art Gruppenbewusstsein zu verfügen. Sie agieren und denken als Kollektiv. Die Idee von Individuen ist ihnen nicht vertraut. Das erschwert auch die Kommunikations- und schließlich auch Verhandlungsversuche. Die Idee einer Gruppenintelligenz ist im Genre genau wie die Angreifer aus dem Nichts bzw. in diesem Fall den Tiefen des Alls nicht neu. Auch die grundlegenden Missverständnisse und deswegen auch “Konflikte”, die von den beiden Kriegsgegnern zu überwinden sind, werden von der Autorin solide, aber auch nicht wirklich abschließend entwickelt.
Über weite Strecken beider Romane waren die Fremden gesichtslos. Sie griffen an, sie zerstörten und waren schwer zu bekämpfen. Mit der Aufnahme der Verhandlungen sowie den Störmanövern erhalten die Außerirdischen ein exotisches Profil. Das Geheimnisvolle verschwindet und am Ende des Buches erscheinen die menschlichen Nachkommen mit ihrer archaischen imperialen Struktur fremdartiger als die von einem Gruppenbewusstsein gesteuerte Masse Außerirdischer mit ihren stetigen Angriffsbemühungen, denen die Autorin allerdings keine wirklich überzeugende Basis im Laufe der beiden Bücher auf den Leib geschrieben hat.
Die politischen Ränkespiele innerhalb des erinzelnen Interessengruppen des Imperiums, aber auch die Verhandlungen mit den Fremden stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Buches. Am Ende versucht die Autorin noch ein wenig Dynamik zu generieren, in dem es einen weiteren opportunistischen Vertreter des Militärs gibt, der wenig vom Frieden hält. Eine Begründung wird eher hinterhergeschoben.
Dabei ist das Verhalten im Grunde zweier relevanter Protagonisten sowohl während der Friedensverhandlungen als auch an deren Ende Linientreu. Denn auf der zwischenmenschlichen Ebene zeigt Arkady Martine auf, dass insbesondere die politischen Führer des Planeten Lsel ein ureigenes Interesse haben, den Konflikt zwischen dem Imperium und den Fremden am Köcheln zu halten.
Ein wenig konstruiert erscheint, dass angesichts der zahlreichen Angriffe der Fremden und ihrer bislang unbekannten Identität es plötzlich nach dem Start der Verhandlungen möglich ist, quasi hinter die Kulissen zu schauen und entsprechend proaktiv zu agieren.
Genauso schwer zu verdauen ist das Bestreben der Lsel Station bzw. der der politischen Führung, den Konflikt wie schon erwähnt andauern zu lassen. Waffentechnisch sind sowohl das Imperium als auch die Fremden dem Lsel System überlegen. Die Strategie, wenn sich zwei streiten, freut sich ein Dritter, kann auch nur bedingt auf den Plotverlauf angewandt werden. Zu fremd, zu brutal erscheinen die Außerirdischen. Ihr Verhalten kann nicht eingeordnet werden und es besteht die Gefahr, das über kurz oder lang das Lsel System ebenfalls angegriffen wird.
Auf der anderen Seite macht sich die politische Führung des Lsels System auch die imperiale Herrscherin mit ihrem Bestreben, eine Art Frieden zu finden, zum Feind. Auch in diesem Fall wären die Strafen drakonischer und der weite Arm des Imperiums zu mächtig, als das es wirklich Sinn macht, gegen beide Seiten heimlich zu opponieren. Hinzu kommt, dass einmal zwischen den möglichen Sabotageakten während der Verhandlungsmission und der Aggression nach dem ersten Abschluss der Verhandlungen unterschieden werden muss. Die Sabotageakte lassen sich noch sehr eingegrenzt verheimlichen und die eigentliche Intention verdecken. Den abschließenden Angriff können die Verantwortlichkeiten nur bedingt verleugnen.
Natürlich zeigt die Gegenwart, dass oft genug wiederholte Lügen genauso zu einer Art pervertierten Wahrheit werden können wie die Tatsache, dass man etwas abstreitet, bis die andere Seite ausreichend Beweise gefunden hat, um es dann Stück für Stück, Meter für Meter zuzugeben. Bis dahin hofft man, das sich die Fakten geändert haben.
So bezieht sich der Titel auf diese Art der Ignoranz. Die Autorin ist Historikerin und hat einige Bücher über Byzanz geschrieben. Daher zitiert sie im Original Tacitus, der wiederum auf einen der Feinde des römischen Imperiums Bezug nimmt. Die römische Armee hinterlässt eine Schneise der Zerstörung und nennt es Frieden. Der zweite Band ihrer Serie ist in den USA vor dem Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine erschienen, aber Putins Politik der verbrannten Erde und dem auf gedrückten Frieden zieht sich ja schon lange durch die diversen Kriege, welche die Russen in anderen Ländern geführt haben.
Aber die Autorin greift mit dem Titel “A Desolation called Peace” noch ein wenig zu weit. Es gibt am Ende des Romans keinen endgültigen Frieden und auch noch keine abschließend verbrannte Erde. Neben den politischen und militärischen Konfliktsituationen steht im Mittelpunkt ihrer Geschichte die Entwicklung ihrer dreidimensionalen Figuren vor dem Hintergrund eines dekadenten, im Grunde klassisch inszenierten seinen Höhepunkt überschrittenen Imperiums, das nicht unbedingt vor den Barbaren draußen vor den Sprungtoren Angst haben muss, aber angesichts der Aggression der Fremden die eigenen Vorgehensweisen hinterfragen und im direkten Vergleich zum alten Rom auch ändern will oder besser muss.
Schon im ersten Buch überzeugte Arkady Martine durch ihre Liebe zu Details. Dabei wirkte die Autorin teilweise überambitioniert und konzentrierte sich vielleicht zu sehr auf die Hintergründe als auch die Gestaltung der einzelnen Protagonisten, anstatt den Plot per se voranzutreiben. Immer wieder griff sie auf die Idee von inneren Monologen zurück, mit denen sie die Intentionen, aber auch die Denkweise ihrer Protagonisten vor den Lesern ausbreitete Diese literarische Vorgehensweise setzte allerdings auch das Tempo der Handlung herab und erforderte zusätzliche Geduld. Das Instrument setzt Arkady Martine in “Am Abgrund des Krieges” positiv gesprochen spärlicher ein.
Wie aus anderen Epen mit strukturell überalterten galaktischen Reichen bekannt sind die Charaktere weder in ihrem Denken, noch in ihren Traditionen, aber vor allem nicht in ihren zukünftigen Handlungen frei. Isaac Asimov hat die Folgen in den ersten drei “Foundation” Bücher drastisch beschrieben, Frank Herbert folgte zumindest teilweise diesen starren gesellschaftlichen Regeln in “Dune”. Neben der kulturellen Identität als Teil eines großen Reiches, aber auch den herrschaftlichen Verantwortlichkeiten eines neuen, jüngeren und dabei wahrscheinlich auch professiveren Herrschers spielen die zwischenmenschlichen Beziehungen eine wichtige Rolle. Auch wenn die Namen der Protagonisten bizarr und künstlich erscheinen, handelt es sich um Menschen.
Mit dem Imago, dem künstlichen Zwilling, hat die Autorin eine weitere Schwierigkeit eingebaut. So versuchen Marit und ihr Imago Yskandr gemeinsam wieder in der Heimat Lsel emotional nach ihrer Tour als Botschafterin im Herzen des Imperiums anzukommen. Ihre Heimat hat sich aber drastisch verändert. Arkady Martine untersucht, wie weit sich ein Mensch verbiegen kann, um in der nur noch vordergründig vertrauten Umgebung zufrieden leben zu können. Fatalistisch muss ihre Protagonistin irgendwann erkennen, das sie immer noch selbst in den Spiegel schauen und sich darin wiedererkennen muss, um mit sich selbst und ihrer Umgebung zufrieden zu sein. Es ist ein schwieriger emotionaler Weg, der sich nicht selten bis an den Rand des Kitsches entwickelt. Aber die persönliche Ebene ist ein wichtiges Bindeglied zum First Contact Handlungsbogen.
Das sich Geschichte wiederholt, zeigen die offensichtlichen Bezüge zwischen dem Vorgehen des römischen Imperiums - man kann die Außerirdischen nicht den Barbaren gleichsetzen, aber die Autorin versucht die Unterschiede zwischen den Kulturen herauszuarbeiten - und dem imperialistischen Vorgehen gegenwärtiger Diktaturen nicht nur in Osteuropa. Dabei stellt die Autorin Fakten dar, sie sucht keine globalen Lösungen. Der Krieg kann nur in diesem Fall nur mit vielen kleinen Schritt überwinden bzw. dessen Ausweitung verhindert werden.
“Im Herzen des Imperiums” beschrieb abschließend einen Pyrrhussieg. Vieles blieb allerdings auch offen. In mehrfacher Hinsicht ist das Finale von “Am Abgrund des Krieges” vor allem beide Bände zusammen betrachtend sehr viel zufriedenstellender und in sich geschlossener. Es bleiben aber auch viele Flanken offen.
Beide Romane stellen keine einfache Lektüre dar. Das Tempo ist unabhängig von einigen Actionszenen eher gemütlich bis phlegmatisch. Es wird viel diskutiert, miteinander gesprochen und resümiert,ohne daß wirklich etwas gesagt wird. Das kann die Geduld der Leser strapazieren. Auf der anderen Seite vor dem Hintergrund einer zufriedenstellenden, aber im Detail auch nur bedingt originellen Handlung hat die Autorin aber einen dreidimensionalen, farbenprächtigen Kosmos erschaffen, vor dessen Hintergrund sich die “menschlichen” Dramen um Liebe und Leid, um Zusammenhalt und Verrat abspielen.
- Herausgeber : Heyne Verlag; Deutsche Erstausgabe Edition (10. August 2022)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 704 Seiten
- ISBN-10 : 345331994X
- ISBN-13 : 978-3453319943
- Originaltitel : A Desolation Called Peace