Der Verlag Dornbbrunne legt im Rahmen seiner „Taschenschmöker“ Edition mit dem 1885 entstandenen Jules Verne Roman „Ein Lotterielos“ einen auf den ersten Blick geruhsamen Herz-Schmerz-Romantik- Reiseroman aus der Feder des Franzosen in einer ungekürzten und übersetzungstechnisch auch überarbeiteten Fassung auf. Das Buch entstand nach dem umfangreichen, ein wenig zu sehr an Kapitän Nemo erinnernden „Matthias Sandorf“ und parallel zum deutlich dunkleren, Technik affinen „Robur, der Eroberer“. Im lesenswerten Nachwort – es sollte wirklich erst nach der Lektüre der Geschichte goutiert werden – geht der Herausgeber noch einmal auf die Entstehung der Neuauflage ein. Ausschlaggebend war die Übersetzung und Veröffentlichung des bislang in den deutschen Ausgaben fehlenden 18. Kapitels in der Zeitschrift des Jules Verne Clubs. Jules Verne Anhänger drängten auf eine vollständige Fassung des Romans. Neben der Reintegration des Kapitels überarbeitete Meiko Richert den ganzen Text und stellten gegenüber den bisherigen beiden Übersetzungen Abweichungen in beide Richtungen fest. Es fehlten einzelne kleinere Anmerkungen oder Absätze, aber in der Hartlebenausgabe basierend auf einer anderen Ursprungsfassung sind einzelne Worte und Begriffe hinzugefügt worden.
Die zahlreichen Fußnoten dieser empfehlenswerten und im vielleicht ein wenig zu kleinen Format auch über die Abbildungen der französischen Ausgabe verfügenden Neuauflage geben dem Interessierten einen sehr guten Überblick über die einzelnen Fassungen. Der Herausgeber will sich nicht festlegen, was die endgültige Fassung ist oder ob es jemals eine solche Version gegeben hat, da Jules Vernes Verleger teilweise die Druckplatten schon vor der finalen Korrektur seines Starautors zur Druckerei geschickt hat, um die Bücher schneller an die zahlende Kundschaft zu bringen.
Das Leben der Familie Hansen könnte trotz des frühen Todes des Familienhaupts perfekt sein. Sie betreiben eine kleine Pension an einem der bei Touristen aus aller Welt beliebten Ort. Der eine Sohn ist Fremdenführer, seine Schwester liebt einen jungen fleißigen Seemann Ole Kamp, der ein letztes Mal auf dem Meer das Geld für die bevorstehende Hochzeit verdienen möchte. Das Datum ist mit „wenige Tage nach seiner Rückkehr“ festgelegt.
Jules Verne nimmt sich viel Zeit, das perfekte, vielleicht ein wenig zu zuckersüße Szenario zu beschreiben. Neben den ausführlichen Beschreibungen der Landschaft, basierend auf seiner eigenen Reise nach Norwegen, geht der Franzose auf die besondere Kultur (der Gastfreundschaft), aber auch Land und Leute ein.
Zwei Unglücke kommen innerhalb kürzester Zeit ans Tageslicht. Die Witwe Hansen hat Schulden bei einem örtlichen Wucherer, eine Art Scrooge der norwegischen Wirtschaft. Sie wollte das hinterlassene Vermögen vermehren, kann aber den bald fälligen Schuldschein nicht einlösen.
Und das Fangschiff des Schwiegersohns in spe ist anscheinend gesunken. Nur eine Flaschenpost erreicht Hulda Hansen. Auf die Rückseite eines Lotterieloses hat ihr Verlobter seine Abschiedsworte geschrieben, in der Hoffnung, das gegen alle Wahrscheinlichkeiten diese Botschaft Hulda erreicht.
Bis zur Mitte des kurzweilig zu lesenden Romans ist das Ausgangsszenario etabliert, die Probleme liegen in einem Fall verklausuliert auf dem Tisch. Ab der Mitte des Buches führt Jules Verne aber auch mit dem geachteten Sylvius Hog einen scheinbar verschlossenen reichen älteren Herrn ein, dessen Leben die beiden Hansen Geschwister retten. Aus Dankbarkeit, aber auch wegen der Gastfreundschaft und impliziert auch einem Auge auf der Witwe Hansen beginnt er der Familie mit seinen Beziehungen, aber vor allem auch seine Geschäftstüchtigkeit und Intelligenz zu helfen.
Das bislang fehlende 18. Kapitel könnte in mehrfacher Hinsicht eine Schlüsselszene sein. Das Verhalten Hogs deutet in zwei Richtungen. Eine entspricht dem klassischen väterlichen Heldentypus, der nicht selten hinter den Kulissen für die vom Schicksal gestrauchelten Protagonisten dar. Die andere Möglichkeit wirkt eher an den Haaren herbeigezogen, da sich Hog mehr für die Witwe Hansen als deren Tochter interessiert. Aber die Implikationen dieses Einschubs sind bei einer aufmerksamen Lektüre eher von oberflächlicher Natur. Auch wenn Jules Verne in Form von Sylvius Hog dem Leser wichtige Informationen bis zum klassisch gestalteten dramaturgisch überzeugenden Finale vorenthält, ahnt der Leser, dass Jules Verne keine Tragödie schreiben wollte. Auch wenn der Tonfall immer dunkler und das Schicksal anscheinend immer grausamer ist, bleibt Hogs fast fatalistisch stoisch zu nennender Optimismus das Leuchtfeuer in den dunklen, langen norwegischen Nächten und deutet durch seine fast sturköpfige Haltung auf den Ablauf des Finals hin.
Die Charaktere sind liebevoll, vielleicht ein wenig romantisch kitschig beschrieben worden. Interessant ist dabei, dass zwischen Mutter und Kindern nur eine bedingte Kommunikation stattfindet. Viele Missverständnisse bauen sich aus „Scham“ von Seiten der Muter auf, während die beiden Geschwister offener miteinander umgehen und auch Sylvius Hog teilweise auf Umwegen einweihen. Dieses schamvolle Schweigen dient Jules Verne beim Spannungsaufbau in einigen emotional wichtigen Szenen. Höhepunkt dieser Entwicklung ist die Gier des norwegischen Scrooge nach dem ominösen Lotterielos, das aufgrund Ole Kamps inzwischen weltweit bekannten Schicksals, nur Glück bringen kann.
Das Lotterielos ist der markanteste Aspekt dieses stringenten Erzählung. Zu Beginn denkt der Leser aufgrund Ole Kamps ersten Brief, das die Ziehung schon stattgefunden und Kamp Geld gewonnen hat. Erst später stellt sich heraus, das die Ziehung noch zu erfolgen hat und die Chance 1 zu 999.999 ist. Eine Millionen Lose gibt es. Daher wirkt das Überbieten aus aller Welt – einige namhafte historische Wirtschaftspersönlichkeiten integriert Jules Verne mühelos in seinen Handlungsbogen – wie eine Sucht; die Gier, welche Spekulationsblasen entstehen lässt. Kaum musste Hulda Hansen verkaufen, um die eigene Familie zu retten, verliert das Los zumindest in den Augen der Öffentlichkeit seine Glückspatina – kritisch gesprochen war das Los nur eines unter eben einer Millionen Lose – und es gibt keine Gebote mehr. Das klassische Platzen einer Spekulationsblase.
Den wahren Wert des Loses erfahren die Leser, die Hansens und schließlich die norwegische Öffentlichkeit während des ausführlich beschriebenen Finales. Jules Verne nimmt sich sehr viel Zeit, die Ziehungsmechanismen zu beschreiben und überdreht fast die Spannungskurve. Dabei verzichtet der Franzose allerdings auf den Gipfel der Konstruktion und lässt die inhaltlichen „Bomben“ vor der finalen Ziehung platzen.
„Ein Lotterielos“ gehört nicht zu Jules Vernes markantesten Werken. Trotzdem unterhält die Geschichte sehr gut, weil wieder normale, unschuldige, einfache, aber herzensgute Menschen in einen Strudel von Ereignissen gerissen werden, die sie nur teilweise verantworten können oder müssen. Dazu kommen die angesprochenen authentischen Beschreibungen von Land und Leuten, wobei Norwegen fast schon idealisiert verklärt beschrieben wird. Jules Verne hat von Norwegen und seinen Bewohnern schwer beeindruckt gewesen. Immer wieder streift er nicht nur die Naturschönheiten, sondern macht deutlich, wie hoch auch das Bildungsniveau der außerhalb der Städte wie Bergen oder noch Christiania – das heute Oslo – ist. Auch wenn er vor allem Christiania den Rang einer großen Stadt abspricht.
Wer genau zwischen den Zeilen liest, wird das Ende vorherahnen können. Aber wie bei jedem romantischen Schmöker ist es die Geschichte einer unendliches Leid ertragenden Liebe, welche immer am Rande des Kitsches und den Ehealltag ausklammernd im Mittelpunkt von „Ein Lotterielos“ steht. Der Weg zum Altar, zur Gründung einer Familie ist wichtiger als alles, was dann noch kommen kann. .
Jules Verne
Ein Lotterielos
Eine norwegische Geschichte
Nach einer alten französischen Übersetzung, ergänzt von Volker Dehs (18. Kapitel) und Meiko Richert
184 S.; Format 12 x 19 cm; 9,90 €
Verlag Dornbrunnen
ISBN 978-3-943275-18-6