Zwei Jahre Ferien

Jules Verne

Der 1888 in zwei Teilen im Rahmen der „Voyages Extraordinaries“ veröffentlichte Abenteuerroman „Zwei Jahre Ferien“ ist älteren Generationen wie „Der Kurier des Zaren“ durch die populären Adventsvierteiler des ZDFs besser in Erinnerung als die Buchveröffentlichung. Der 1974 ausgestrahlte Mehrteiler ist nicht die erste Adaption des Buches gewesen. Als „Das gestohlene Luftschiff“ hat Karel Zeman die Geschichte schon 1966 verfilmt. Es folgten zwei lose, in den Tiefen des Alls spielende Adaptionen. Dazwischen gab es noch einen australischen Film mit dem Titel “Boys of the lost Island”. 

Der Roman ist auch in dem Titel “Abenteuer auf Chariman” - so wurde die Insel von den Jungens genannt - oder “Ein Pensionat von Robinsons” bekannt. Der letzte Titel reiht den plot sehr gut in die kleine Phalanx ähnlicher Geschichten ein. 

Jules Verne eröffnet seinen Plot mit einem dynamischen Auftakt. Eine Handvoll Jungs sind an Bord eines Schoners „Sloughi“ in Lebensgefahr. Ein heftiger Sturm droht das Schiff zu versenken. Es befinden sich keine Erwachsenen an Bord und die nautischen Kenntnisse der mit vierzehn Jahren schon älteren Jugendlichen sind eher spärlich. Das meiste Wissen scheint aus Büchern zu  stammen, wobei Robinson Crusoe , aber auch „Die Schweizer Familie Robinson“ eine mehrfach erwähnte gewichtige Rolle spielen. Bei der Lektüre von „Zwei Jahre Ferien“ hat der Leser anfänglich das unbestimmte Gefühl, als wolle Jules Verne Ideen aus „Die geheimnisvolle Insel“ – auch hier strandet eine Gruppe von Menschen auf einer ihnen unbekannten Insel“ und der schon angesprochenen „Familie Robinson“ vor allem für ein jugendliches Publikum noch einmal überarbeiten und modernisieren. Bei anderen Romanen wie “Die Kinder des Kapitän Grants” ist die Zahl der Gestrandeten - Kapitän Grant und zwei aus seiner Mannschaft - deutlich kleiner.  

Erst in den folgenden Kapitel reist der Autor  mit dem Leser gedanklich zurück und präsentiert das Ausgangsszenario. Die insgesamt vierzehn Jungen und der farbige Schiffsjunge Moko sind an Bord des Schoners über Nacht von einem starken Wind aufs Meer getrieben worden. Anscheinend hat die Crew den Schoner entweder nicht ordentlich im Hafen festgemacht oder jemand wollte den aus reichen Häusern stammenden Kindern einen Streich spielen und hat die Leinen durchgeschnitten. Erst gegen Ende des Romans geht der Autor auf den Auslöser für die Katastrophe ein.  Die Fahrt um die Küste Neuseelands sollte in den eigentlichen Ferien eine Auszeichnung für die besonderen Leistungen der Schüler im abgelaufenen Schuljahr sein.

Jules Verne stellt nicht nur die einzelnen Schüler, sondern auch die oppositionellen, national gefärbten Gegenpole dieser kleinen Gruppe vor. Die meisten Schüler sind Engländer, in Neuseeland des 19. Jahrhunderts die dominierende politische wie wirtschaftliche Macht. Gordon als ältester Junge ist Amerikaner und Vollwaise. Er spricht nicht viel, aber wenn er spricht, dann hat sein Wort Gewicht. Die beiden Brüder Briant – dreizehn Jahre alt – und Jacques -  vier Jahre jünger – sind Franzosen. Ihr Vater ist Ingenieur und Briant ist so eine Art phlegmatisches Genie, das sehr intelligent, aber ohne gefordert zu werden auch entsprechend faul ist. Briant basiert wie einige andere Figuren in Jules Vernes Werk auf einem lebendigen Vorbild aus seinem Freundeskreis. 

In der Gruppe der Engländer ist deren Wortführer Doniphen – ebenfalls dreizehn Jahre alt – sein Widersacher. Briant ist beliebt, Doniphen versucht innerhalb der Gruppe mittels Druck und Dickköpfigkeit eine eigene Position aufzubauen. Jules Verne macht von Beginn an klar, dass die beiden sehr unterschiedlichen Jungen auf der einen Seite  nur durch Gordons kontinuierlich ausgleichendes Eingreifen in Schach gehalten werden können, auf der anderen Seite sie aber auch aufeinander angewiesen sind, um sowohl im Sturm als auch schließlich auf der Insel zu überleben.

Unter den Zeichnungen findet sich eine Art visuelle Tabelle, in welcher der Zeichner jeden der wichtigen jugendlichen Protagonisten verewigt hat. Dadurch kann der Leser den Namen der einzelnen Jugendlichen mindestens eine Gestalt, meistens auch ein klar erkennbares Gesicht zuordnen. Bei den mehr als neunzig über den Text verstreuten Illustrationen lag der Schwerpunkt auf der Detailtreue. 

“Zwei Jahre Ferien” ist ein spannender Roman, in dem sich der Autor gerne selbst zitiert. Das wirkt auf den ersten Blick widersprüchlich, aber einer der Jungen liebt neben “robinson Crusoe” natürlich Jules Verne Schweizer Familie Robinson und nutzt die Tipps, welche Jules Verne in dem einige Jahre vorher veröffentlichten Roman erarbeitet hat, weidlich, um in der gegenwärtigen Notsituation die Versorgung der kleinen Gruppe sicherzustellen. Diese Art von Selbstzitat ist nicht immer leicht zu akzeptieren, da der französische Autor ja auch an der Spannungskurve arbeiten und den Plot extrapolieren soll. 

Die ersten Schritte auf der Insel folgen eben den Strukturen dieses Subgenres. Das Bergen von allen wichtigen Teilen und der verfügbaren Ladung des Schiffs. Eine erste behelfsmäßige Behausung bauen. Anschließend einen sicheren Unterschlupf möglichst in Form einer unbewohnten Hölle finden. Die Erkenntnis, dass man vielleicht den Rest seines Lebens auf der Insel verbringen muss, nachdem man das Skelett  eines vor mehr als zwanzig Jahren verstorbenen Mannes gefunden hat. 

Im Gegensatz zu Robinson Crusoe oder der eng als Familie agierenden Robinsons muss Jules Verne auf die Gruppendynamik der “geheimnisvollen Insel” zurückgreifen. Demokratisch wird ein Anführer gewählt, der fast pedantisch über die lebenswichtigen  Vorräte und vor allem auch Utensilien wie Knöpfe wacht. Das führt zu Spannungen innerhalb der Gruppe, die vordergründig aus zwei Lagern besteht.  Im ersten Jahr wird mit Gordon der einzige Amerikaner gewählt.  Die Idee dieser Basisdemokratie zeigt, wie weit Jules Verne kleine Erwachsene intellektuell gewachsen sind. Allerdings agiert der Autor teilweise auch am Rande der Glaubwürdigkeit, wenn vieles trotz anfänglicher Schwierigkeiten zu leicht von der Hand geht. Mit dem einzigen Farbigen in der Gruppe haben sie gleichzeitig einen versierten Koch wie auch beim Umschiffen der Insel einen routinierten jungen Steuermann. 

Sie haben einen guten Schützen, der lange Zeit mit der vorhandenen Missionen die Fleischversorgung sicherstellt. Anschließend helfen Fallen. Die harten Winter werden dank einer Höhle überstanden, bei welcher im richtigen wie letzten Monat durch einen Zufall eine Erweiterung gefunden wird. So hat die Höhle nicht nur zwei Ausgänge, sondern ausreichend Raum für die Betten wie auch die Vorräte. 

Vieles läuft lange Zeit in “Zwei Jahren Ferien” sehr routiniert ab. Auf jede Herausforderung haben die Jungen die entsprechende Antwort. Der Leser mag nicht glauben, dass sie alle aus reichen Häusern stammen und trotzdem das bodenständige Leben derart gut meistern können. Auch Schule findet statt, wobei die Jüngeren zum ersten Mal Mathematik oder Französisch, aber auch Geschichte oder Handwerkskunst lernen, während die älteren Schülern auf diese Idee im Stoff zu bleiben suchen und eifrig mit den wenigen vorhandenen Schulbüchern arbeiten. 

Erst im letzten Drittel des Romans zieht Jules Verne mit den Verbrechern die Spannungsschraube noch einmal merklich an und versucht, sich von den Robinsonaden auch im eigenen Werk entsprechend abzusetzen. Bis dahin plätschert die Handlung lange  Zeit in einem gemächlichen Tempo dahin und der Autor beschränkt sich auf die Flora/ Fauna, welche den Jungen das Überleben ermöglicht. Zwar geht Jules Verne nicht in die Details, aber Vegetarier und reine Tierliebhaber werden an diesem Buch keine Freude finden. Die finale Auseinandersetzung mit  verschiedenen Geiselnahmen und dem Versuch, in die Höhle der Schüler einzudringen, das Auskundschaften der “feindlichen” Positionen und schließlich dem finalen Sieg sind spannend angelegt und dank Jules Vernes virtuoser Beschreibung der Vorgänge sehr viel interessanter als der zu phlegmatische, schematisch angelegte Mittelteil.  

Auch das Finale mit der Rettung am eigenen Schopfe funktioniert überzeugend. Vielleicht kommt es ein wenig zu praktisch, zu lange durch das sorgfältige und vorsichtige Agieren der Jungen mit den  Ressourcen vorbereitet und ob es wirklich zwei Erwachsene bedarf, die final den Anstoss zur “Rettung” geben, muss jeder Leser für sich selbst entscheiden. Die Jugendlichen auf sich selbst gestellt, hätten es genauso gut, aber weniger melodramatisch geschafft. 

Neben den Zitaten aus dem eigenen Werk - diese finden sich bei Jules Vernes Robinsonaden nur in diesem Werk -  fällt noch ein anderer Aspekt auf. Die meisten Gestrandeten hatten eher mit dem alltäglichen Überleben auf sonnenbeschienenen Inseln zu kämpfen. Die Gruppe von Jungs aus “Zwei Jahre Ferien” sind in Richtung Südpol getrieben worden. Im Winter herrschen teilweise Temperaturen von minus 30 Grad, im Sommer dagegen wird es deutlich wärmer. Jules Verne nutzt den europäischen Kalender, um den Kontrast zwischen Weihnachten im Sommer und dem warmen Winter darzustellen.  So ist die Weihnachtsfeier der melancholische Höhepunkt.

Jules Verne spricht an einer Stelle den Leser direkt an. Einer der Gestrandeten beginnt ein Tagebuch zu führen. Die Jungs haben auch beim Skelett des vor zwanzig Jahren verstorbenen ersten Bewohners der Insel einen entsprechenden, inzwischen unlesbaren Text gefunden. Dieses Tagebuch bildet die Grundlage für die Erzählung, wird aber anschließend nur noch indirekt erwähnt und aus dem Buch wird nur bedingt zitiert. Eine Karte des Verstorbenen wird ergänzt und die wichtigsten Punkte um die Insel herum und auf dem Eiland originell benannt. 

Im direkten Vergleich zu “Robinson Crusoe" entwickelt Jules Verne einige Ideen weiter, wobei der Autor sich - wie mehrfach erwähnt - auch auf die entsprechenden Vorlagen und Quellen in Form von Büchern stützt. Die Jungs haben es deutlich leichter als Defoes Protagonist, was nicht nur Jules Verne, sondern auch seine jugendlichen Protagonisten eingesteht. Sie haben es auch leichter als Kapitän Grant, sie bewegen sich hinsichtlich ihres Schicksals auf dem Niveau der Schweizer Familie Robinson. 

Auch heute noch gehört “Zwei Jahre Ferien” nicht zuletzt dank des Einfallsreichtums der von Jules Verne mit langer wie erfahrener Hand gesteuerten Protagonisten zu den unterhaltsamsten, aber vielleicht nicht originellsten Geschichten des Franzosen, die neben der ein wenig komprimierten und den Kreis der Jugendlichen alterstechnisch stark einschränkenden Geschichte eine uneingeschränkte Daseinsberechtigung hat und als leichte abenteuerliche Lektüre aus einem anderen Jahrhundert mit einem teilweise an die Eigenverantwortlichkeit der Jugend appellierenden Charakter auch heute noch empfohlen werden kann, im Grunde auch muss.         

Zwei Jahre Ferien: Ausgabe in zwei Bänden (Jules Verne bei Null Papier 19)

  • ASIN ‏ : ‎ B08QJ3L4N1
  • Herausgeber ‏ : ‎ Null Papier Verlag; 1. Edition (13. Dezember 2020)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Dateigröße ‏ : ‎ 20166 KB
  • Text-to-Speech (Vorlesemodus) ‏ : ‎ Aktiviert
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