2012 erblickte der in mehr als zwei Dutzend Miniaturen vertretene Meister Li das literarische Licht der Welt, auch wenn Jörg Weigand mindestens eine Geschichte geschrieben hat, die früher spielte und erst vier Jahre später publiziert worden ist. In seinem Nachwort geht Jörg Weigand kurz auf die Entstehung der Figur basierend auf seinen sinologischen Studien ein. Der Dichter- Gelehrter entwickelte seitdem in den meisten der phantastischen Miniaturen aus der entsprechenden Bibliothek in Wetzlar das entsprechende Eigenleben. Weiterhin differenziert der Autor zwischen dem chinesischen Dichter Li Tai-pò des 8 Jahrhunderts und seinen Gedichten, sowie dem sich zwar um den Túng-tìng See aufhaltenden fiktiven Weigand Charakter.
In der ersten Geschichte „Der Baum der Erkenntnis“ geht es um den inneren Zwiespalt in Meister Li, während die Stimme aus dem Wasser – die Miniatur hatte als Oberbegriff „Tonka“ – ihm rät, seinem Herzen zu folgen. Es ist die Geburt des Meister Li, den die Leser in den folgenden Miniaturen aus den unterschiedlichsten Perspektiven kennen lernen sollten. Beim „Baum der Erkenntnis“ ist der Titel nicht ganz richtig. Es sollte eher Baum der Selbsterkenntnis heißen, wobei Meister Li in dieser Geschichte eher der stille Beobachter ist.
Auch „Klappertopf“ gehört chronologisch zu den frühen Meister Li Geschichten. Noch nicht der echte Meister und kaum an seinem See angekommen verliebt er sich in eine Frau, die eine lautstarke Meisterin in der Küche ist. Die phantastische Wendung kommt in einem Traum, wobei sich Li ausgesprochen exzentrisch verhält und ob er seiner Frau wirklich mit dem im Titel angesprochenen Lösung einen Gefallen tut, muss ausgesprochen stark angezweifelt werden.
In vielen Texten erzählten Meister Li seinen Schülern eine entsprechende Geschichte, aus deren Inhalt sie Lehren für ihr Leben ziehen können und möglichst auch sollten. „Dummheit“ ist der Titel der ersten Miniatur dieser Sammlung, welcher dieser Struktur folgt. Es geht um einen geizigen Bauern und dem Gratishasen, auf dessen zweites „Erscheinen“ er wartet und alles andere aus dem Blick verliert. Das wirkt ein wenig übertrieben, aber die Pointe ist klar. In „Das Indiz“ schleicht sich ein Li unbekannter Schüler in seine Gruppe, den er mittels des Schafgabentests zu überprüfen sucht. Das wirkt ein wenig kompliziert, vielleicht auch improvisiert, hat aber einen Einfluss auf den Unbekannten, der als Gestalt in der chinesischen Sagenwelt dagegen nicht so anonym ist.
Neben seinen Schülern wenden sich oftmals seine Nachbarn an Meister Li. Es gibt einen Konflikt zwischen zwei Fischern am See, der teilweise in Sabotage gipfelt. Meister Li gibt schließlich einen besonderen Rat, welcher den Konflikt nicht weiter anfacht, sondern einer Seite zeigt, wie unwichtig die Konfrontation schließlich ist. Den Wind aus den Segeln nehmen würde ein Norddeutscher dazu sagen. Ob das auf längere Sicht hilft, ist eine andere Geschichte, die vielleicht noch erzählt werden muss.
„Die ideale Frau“ zeigt Kunst im Auge des Betrachters. Jörg Weigand konstruiert zwar eine entsprechende Erwartungshaltung, in dem der portraitierende Künstler nicht dem Auge, sondern dem Verstand zum Wohle der Ehe folgt, aber in der Theorie lässt sich der Argumentation folgen. Dagegen ist „Auch ein Leben im Paradies“ deutlich mehr manipulierend. Aus der Argumentation hinsichtlich des wahren Paradies folgt das Experiment und die Bekehrung. Dabei bleibt offen, ob nicht jeder der beiden Streitenden ein wenig Recht hat. Deutlich zeitloser und thematisch breiter aufgestellt ist „Das Kleid des Krieges“. Kleider machen zumindest in der Theorie Leute und Rüstungen könnten Kriege „machen“. Die Begegnung zwischen Meister Li und dem Kaiser endet offen, aber mit seiner Argumentation hat Meister Li zumindest viel Wahres gelassen ausgesprochen. Aber Kleider können auch tarnen, wie Meister Li in „Eine feine Nase“ feststellt. Der Fuchs als verschlagenes Wesen vor allem in weiblicher Form wird den Lesern in einigen der weiteren Miniaturen begegnen. In den meisten Miniaturen sind es verführerische Fuchsfrauen, aber in „Meister Li und die Poesie“ muss sich der Gelehrte mit einem Fuchs auseinandersetzen, der gerne die andere Seite des Mondes sehen möchte. Das Ergebnis entspricht nicht ganz seinen Erwartungen. Meistens sind es aber naive Männer, die verführt werden. Mit „Die Süße des Honigs“ hat ein überforderter Freier endlich die Chance, aus drei perfekten Frauen die Richtige auszuwählen. Auch in „Die Traumfrau“ sind es Kräfte aus dem Jenseits, welche die naiven Männer in Meister Lis Umgebung manipulieren. Dabei wäre es leicht, ihnen zu widerstehen, wenn man sich Zeit nimmt, bis zum Ende zuzuhören. Dazwischen fällt mit „Kleine Dinge“ eine entsprechende Parabel auf das in kleinen Schritten anzugehende Leben. Auch „Nur eine Kleinigkeit“ fällt in diese Kategorie. Es kommt auf die Details drauf an und wenn ein Bauer generell unzufrieden ist und das perfekte Wetter haben möchte, darf er sich eben von den Launen oder Wünschen seiner Frau nicht ablenken lassen. „Der Rat der Reissfee“ reiht sich nahtlos in diese Thematik ein. Auch hier ist der Bauer ungeduldig und rastlos. Er geht gierig gegen die Natur aufgrund eines falschen Rats los und steht am Ende ärmer als je zuvor da.
Bei „Hausrecht oder wer eine Fuchsfrau stört“ ist der Titel schon Programm und Meister Li muss den verstörten Hausbesitzer darauf hinweisen, dass er nicht immer alleine in seinem Haus ist, auch wenn es einen anderen Anschein macht. Wie bei einigen anderen Miniaturen ist der Titel schon eine schöne, treffende Zusammenfassung der ganzen Handlung. „Salamander“ dagegen unterstreicht, das Frauen mit übernatürlichen Genen auch etwas Gutes sein können. Es kommt immer auf den Ursprung drauf an.
„Das Drachenei-Spiel“ und „Der Beschützer“ bauen aufeinander auf. Meister Li schaut zu, wie seine Schüler mit einem schweren „Ball“ spielen. Alle ahnen nicht, dass es sich um ein Drachenei handelt, bis es Kontakt mit den Menschen aufnimmt. Später revanchiert sich der kleine Drache als Meister Lis Beschützer, als dieser überfallen werden soll. Die Titel sind in beiden Fällen Programm, auch wenn nur die erste Miniatur eine den Leser bekannte Mahnung/ Botschaft enthält. Auch in „Löschversuch“ geht es wieder um Drachen. Nur soll dieser kein Feuer speien, sondern es schlucken. Übung macht in diesem Fall den Meister.
Auch „Verweigerte Vaterschaft“ hat mit Drachen zu tun. Ein arroganter Schüler versucht sich angesichts seiner eher fragwürdigen Herkunft über den Anderen zu positionieren. Mittels Magie holt ihn Meister Li nicht nur auf den Erdboden, sondern irgendwie unter die Erde zurück. Die Pointe ist der letzte Satz. Aber es handelt sich bei „Verweigerte Vaterschaft“ um eine der zahlreichen Geschichten, in denen Meister Li echte Magie einsetzt, um zu seinem Ziel zu kommen. In „Der unsichtbare Keller“ ist der Titel Programm und ein Gast erweist sich mittels der Wassergeister sehr dankbar.
Bei „Wie man einen Dämonen erledigt“ heißt es, dass Magie Magie schlägt. Das ist in dieser Miniatur hintersinnig gemeint, denn alleine Meister Lis umfangreiche Kenntnisse der Örtlichkeiten helfen einem Bauern, den Rattendämonen nicht nur aus seinem Bett, sondern vor allem auch seinem Haus zu vertreiben. In Wenn Geister zürnen“ lehrt Meister Li, wie man die Berggeister, die es offiziell nicht gibt, mit Gaben besänftigt, die es offiziell in dieser Form nicht geben darf.
Es finden sich aber auch Miniaturen, deren Inhalt dem Leser auch aus westlichen Geschichten bekannt ist. „Meister Li und der Reichtum“ zeigt auf, dass in bestimmten Situationen Reichtum zu einem lebensbedrohlichen Ballast werden kann. Natürlich handelt es sich um die eine Seite der Silbermünze, denn nicht jeder kann wie Meister Li leben. Die Wahrheit liegt immer in der Mitte.
Reine Science Fiction Elemente treten das erste Mal in „Küchengeheimnis“ auf. Meister Li soll auf eine besondere Art und Weise das Geheimnis der jährlichen Zubereitung eines Fisches entrissen werden. Die Pointe ist klar erkennbar, Jörg Weigand schafft es nicht, dieser Miniatur anderes interessantes Leben einzuhauchen. Aber zum ersten Mal bricht der Autor aus Meister Lis direkter Umgebung aus. Auch „Test oder eine rätselhafte Begegnung“ greift auf ein bekanntes Science Fiction Sujet zurück, dass zwar auf Meister Li und seinen besonderen Kosmos angepasst worden ist, aber trotzdem nicht wirklich funktionieren will. Auch „Die andere Welt“ könnte als Science Fiction durchgehen. Als eine Parallelweltgeschichte, in welcher der Schüler mit einer besonderen, ihm unwürdigen Farbe in erdrückendem Übermaß konfrontiert wird.
„Der schlechte Beamte“ hat ihre Wurzeln tief in der Gegenwart verankert. Jörg Weigand lässt anfänglich den perfekten Beamten definieren, um dann das Gegenteil zu präsentieren. Es ist keine Überraschung, das die Strafe direkt auf den Fuß folgt. Auch „Tradition“ verweist mit seinem zeitlosen Thema hinsichtlich der Regeln und Riten der Eltern auf die Schwierigkeit, auszubrechen, neue Wege zu finden und ohne diese Veränderungen gäbe es auch keinen (sozialen) Fortschritt.
Die Miniaturen der Phantastischen Bibliothek Wetzlar sind ja immer einem Thema untergeordnet. Manchmal ist es selbst für Jörg Weigand eine Herausforderung, wie „Farbkorrektur“ beweist. Allerdings nimmt er den angeordneten Begriff sehr wörtlich, dividiert ihn auseinander und macht anschließend dank eines Helfer Meisters Li wieder einen neuen sehr treffenden Spitznamen daraus.
In „Wunschkind“ spielt Meister Li nur eine indirekte Rolle, da Jörg Weigand ihn in die historischen Briefe Karl Gützlaffs einbaut, die eine junge Frau auf dem Dachboden eines Hauses findet, das sie mit ihrem Mann inklusive Inventar kürzlich erworben haben. Auch in „Dokument Sin 874/ B5A“geht es um Meister Li und handelt nicht direkt von ihm. Die Zeitspanne zwischen dem Entstehen der Dokumente und dem Fund ist noch größer. Es handelt sich weniger um eine der klassischen Miniaturen, sondern eine ausgereifte Kurzgeschichte, in deren Verlauf Gegenwart – für den Leser die Zukunft – und Vergangenheit miteinander verschmelzen, da Jörg Weigand ein letztes Mal aufführt, wie zeitlos Meister Lis hilfreiche Ratschläge wirklich sind.
Die Miniaturen sind alle gut geschrieben, die Pointen meistens effektiv und teilweise auch überraschend. Nicht selten handelt es sich sogar um Wortspiele mit dem Leser bekannten Begriffen, die zeitlich versetzt ganz anders interpretiert werden. Es lohnt sich, die Texte in zeitlichem Abständen zu lesen. Zu viele Weisheiten des Meister Li könnten erdrückend wirken, teilweise nutzt Jörg Weigand auch die gleichen Korsettstangen – die minutiöse Zubereitung gefährlicher Kräuter oder Pilze -, um seinen Plot zu erzählen. Außerdem lässt sich so die sorgfältige Konstruktion der einzelnen Miniaturen besser nachvollziehen. Jeden Tag eine Miniatur wäre eine gute Empfehlung, möglichst morgens beim ersten Kaffee, um den Tag mit ein wenig bodenständiger Einsicht in das unstete Wesen der meisten Menschen und einem Schuss entsprechender Gelassenheit beginnen zu können. Nach der letzten Kurzgeschichte kann der geneigte Leser ja wieder mit der ersten Miniatur beginnen. Manchmal wechselt auch die Perspektive bei einer zweiten oder dritten Lektüre.