Der Landpanzer/ Unter dem Messer

H.G. Wells

Herausgeber und bei der ersten Geschichte auch Übersetzer Gerd Michael Rose präsentiert zwei frühe phantastische Geschichten H.G. Wells, die inhaltlich nicht unterschiedlicher sein könnten. Beide Texte sind bislang nicht ins Deutsche übersetzt worden und fehlen in den einschlägigen Sammlungen der Kurzprosa des Briten.

 Die erste Geschichte „Die Landpanzer“ („The Iron Clads) stammt aus dem Jahr 1903. Schon zwei Jahre vorher in seinem sekundärliterarischen Buch „Anticipations“ hat sich Wells mit dem technischen, wissenschaftlichen und nicht selten auch moralisch sozialen und damit auch ehrbaren Fortschritt der Menschen auseinandergesetzt. Ein von Wells eher kritischer betrachteter, aber nicht verschwiegener Abschnitt ist die moderne Kriegsführung. Dabei hat sich Wells auf die Ideen/ Entwicklungen Bramah Josph Diplocks bezogen, der eine Art Raupenschiene erfand. Ein Jahr nach der Veröffentlichung dieser Kurzgeschichte bewies Diplocks, dass es mittels dieser Konstruktion möglich ist, eine schwere Last über unwegsames Gelände zu ziehen. Andere Biographien sind der Ansicht, dass sich Wells vom Erfinder J.W. Dunne hat beeinflussen lassen. In seinem 1908 veröffentlichten Roman „The War in the Air“ finden sich deutlichere Anspielungen auf Dunnes Ideen und Entwicklungen.

1917 selbst verwies H.G. Wells allerdings auf Diplocks Ideen als Inspiration zu dieser Geschichte. Technisch bilden Wells „Ironclads“ aber eine faszinierende Mischung aus den Ideen der beiden Techniker.

 Die Geschichte spielt zwar in einem namenlosen Land in einem nicht näher bezeichneten Abschnitt der Front, die sich seit einiger Zeit nicht mehr wirklich bewegt. Wells sieht die Grabenkriege des Ersten Weltkriegs voraus. Ein anonymer Kriegsberichtserstatter – später schließt sich noch ein Kriegsmaler der kleinen Gruppe an – und ein junger Leutnant beobachten die feindlichen Linien.

Der Kriegsberichtsbeobachter ist der Ansicht, dass die eigenen Truppen alleine durch ihre Statur, ihre Ausbildung und jahrelanges Training den eher unterernährten, schlecht ausgebildeten Feinden Paroli bieten können. Am Ende der Geschichte ist es aber die Wissenschaft, der technologische Fortschritt, welcher mittels der gepanzerten Ungetüme, die im Morgengrauen die feindlichen Reihen zu durchbrechen beginnen, den zumindest vorläufigen Sieg an diesem Frontabschnitt erringen wird. Die neue Zeit besiegt auf eine dramatische Art und Weise die alte Welt.

 Die Geschichte stellt einen interessanten Übergang in Wells Werk da. Es ist vermessen, von dieser Kurzgeschichte auf „Kampf der Welten“ mit den technisch überlegenen Marsianern zu schließen. Immerhin hat am Ende dieser Geschichte die alte Welt, die Erde über die Feinde mittels eines unsichtbaren Verbündeten gesiegt. Das wird in dieser Geschichte, in diesem Krieg nicht der Fall sein.

 Viel aufschlussreicher ist, dass H. G. Wells für die ersten gepanzerten Ungetüme einen Begriff auf der Marine übernommen hat. Als „Ironclads“ galten die modernen gepanzerten Dampfgetriebenen Kriegsschiffe, die mittels ihrer Panzerung trotz einiger Bewegungseinschränkung den Feinden in Seegefechten über eine gewisse Entfernung überlegen gewesen sind.

 Wells ist einer der ersten Autoren gewesen, welche die Wirkung von gepanzerten Fahrzeugen im Kampf gegen Infanterie und Kavallerie darstellt. Wie die Maschinengewehr in „Das Menschenschlachthaus“ den Unterschied in den Grabenkämpfen machen, gehört Wells damit zu den dunklen Propheten der kommenden Kriege, aber den klassischen und im Ersten Weltkrieg verwandten Panzer hat er nicht erfunden.

 Die Anonymität der Front, der handelnden Charaktere – obwohl sie schnell als Briten zu erkennen sind – gibt der kleinen Geschichte eine unheilvolle Allgemeingültigkeit. Der Angriff der Ungetüme und ihre Wirkung auf die schnell demoralisierten Verteidiger wird intensiv beschrieben. In diesen Abschnitten erreicht Wells die Brillanz seines Mars Romans. Es wird nicht das letzte Mal in seinem umfangreichen Werk sein, das er widerwillig, aber auch auf eine erstaunlich distanzierte Art und Weise und den Schrecken der Kämpfe im Ersten Weltkrieg höchstens rudimentär erreichende Art und Weise dem Fortschrittsdrang der Menschen auch in Waffentechnik Tribut zollte.

 Handlungstechnisch konzentriert sich der Autor auf den anscheinend allerersten Angriff der Feinde, die lange Zeit die Erfindungen geheim halten konnten. Die siegessicheren routinierten Truppen werden nicht nur im Morgengrauen überrascht, obwohl der junge Leutnant dem Kriegsberichtserstatter erzählt hat, das in der Morgendämmerung die beste Zeit für den erwarteten Angriff der Feinde ist. Aber mit dieser Wirkung hat er nicht gerechnet.

 Im letzten Abschnitt zeigt Wells, dass auch die Feinde in den Panzern nur Menschen sind, die sich am Morgen des Kampfes, des Siegs an ihre Fahrzeuge gelehnt ausruhen.   

  Die zweite Geschichte „Unter dem Messer“ stammt aus den Jahr 1896 und ist von Martin W. Melnick übersetzt worden. Der Kontrast zur Kriegsgeschichte könnte nicht größer sein.

 Der Erzähler – auch wenn nicht wirklich bekannt wird, was an ihm operiert worden ist, scheint er sich am Rande der Hypochondrie zu bewegen – begibt sich in die Hände eines Arztes. Eher fatalistisch, wie seine Haushälterin und die schon angestellte Krankenschwester ihn auf den Tag, die Stunde und schließlich die Minute mit viel pflegerischer Liebe und sorgfältiger Vorbereitung präparieren. Kaum ist er auf dem Operationstisch mit Chloroform – nicht ganz ungefährlich, wie der Erzähler anmerkt – betäubt worden, beginnt seine Seele zu wundern. Anscheinend hat er neben einer Out-of-Body- auch kurze Zeit später eine Nahtoderfahrung, bevor H.G. Wells den Plot im letzten Absatz wieder auf die Ausgangssituation zurückführt. Alles halb so schlimm, könnte der Leser anmerken. Der Reiz dieser Kurzgeschichte liegt aber in der Art der Seelenreise, welche der Erzähler unternimmt. Sie wirkt wie eine interessant Mischung aus den frühen französischen Phantastereien – Carl Grunert und Kurd Lasswitz dürfte H.G. Wells mangels entsprechender Übersetzungen bzw. dem späteren Entstehen der Geschichten nicht gekannt haben , aber zumindest bei Carl Grunert könnte anders herum ein Schuh draus werden -  und den späteren Reisen durch Zeit und Raum, die Olaf Stapledon sowohl in „Starmaker“, wie auch teilweise in „Last and First Men“ unternehmen sollte. Es besteht die Möglichkeit, dass der Brite die kurze H.G. Wells Geschichte kannte und sich von der Befreiung jeglicher irdischer Schwerkraft hat inspirieren.

Die Visionen sind weder religiös noch werden sie wirklich konkret beschrieben. Es geht eher um Eindrücke, sinnliches Empfinden und schließlich auch den Respekt vor der kosmischen Schöpfung bis weit in die ferne Zukunft. Es ist erstaunlich, wie kompakt H.G. Wells diese Kurzgeschichte nach dem für die gesamte Länge eher ein wenig behäbigen Auftakt verdichtet.

 Der große Unterschied zu Olaf Stapledon ist, das der Erzähler unter dem Einfluss des Betäubungsmittels sich stetig wachsen sieht, größer als das Krankenhaus, schließlich auch das eigene (unverkennbar britische Land) überspannend; die Erde verlässt, das Sonnensystem und schließlich das ganze Universum. So weit reichte Olaf Stapledons Phantasie nicht. Allerdings kehrten seine Protagonisten höchstens für einen kurzen Besuch zur Erde zurück und wachten nicht nach der erfolgreichen Operation unter dem strengen Blick des Arztes wieder auf.

 „Unter dem Messer“ – der Titel ist ein pragmatischer Kontrast zum Inhalt der Geschichte – ist eine wunderbare Phantasie, in welche H.G. Wells vielleicht auch ein wenig die eigenen Ängste vor Ärzten und Krankenhäusern gepackt hat, welche in einer Phalanx mit einer Reihe anderer evolutionärer Novellen wie „Der Krocketspieler“ steht, in denen der Brite allerdings rückwärts in der Geschichte des Menschengeschlechts geschaut hat und nicht wie hier deutlich in die ferne Zukunft.

 Die thematisch Bandbreite der beiden Texte unterstreicht noch einmal, welchen Einfluss H.G. Wells nicht nur auf die Science Fiction, sondern vor allem auch auf die eher bodenständige, wenn auch militärische technische Entwicklung hat. Wie Jules Verne hat er neue Entwicklungen extrapoliert und zeigt in den eindringlichen Texten auf, das der größte Feind des Menschen immer noch der Mensch ist. In der zweiten Story handelt es sich eher um eine Phantasie, die farbenprächtiger, innovativer ist, aber auch – wie angesprochen – Autoren wie Olaf Stapledon mit seinen Roman vorwegnimmt.

 Ein kleines Juwel aus der Reihe der bunten Abenteuer, gut übersetzt und mit einigen relevanten Hintergrundinformationen versehen.

Buntes Abenteuer 60

44 Seiten, Din A 6

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