Das Dickicht

Joe Lansdale

Joe Lansdales Roman “Das Dickicht” ist kein klassischer Western, auch wenn die “True Grit” Motive – die Verfolgung einer Gruppe von Outlaws, um vordergründig eine weibliche Geisel zu befreien und hintergründig in Kombination mit dem Verlust der Unschuld auch Rache zu nehmen – offensichtlich sind. Je weiter die Jagd der kleinen, ungleichen wie bizarren Gruppe sie von ihrer „Heimat“ weg führt, um so moderner wird das Ambiente und vor allem desto deutlicher  verliert Lansdales Frontierwesten seine natürlich durch unzählige Geschichten auch verklärten Ecken und Kanten. Wenn im Epilog quasi eine Art Happy End nach der getanen Arbeit angedeutet wird, dann ist es nur halb richtig. Das Auto, das Telefon und schließlich die immer größer werdenden Ölfunde haben das Gesicht des Wilden Westens schon verändert und mit der von Lansdale immer wieder vorangetriebenen Geschichte entsteht der Übergangsmythos deutlicher als es die grundlegende, immer wieder von melancholischer Selbstreflektion unterbrochene Handlung bei der ersten Lektüre erahnen lässt. Viele von Lansdales Romanen bestehen aus einer äußeren, für den Leser deutlich griffigeren Suche, die wie das große, mehrfache erwähnte Vorbild Mark Twain mit einer unabänderlichen inneren Veränderung in einem ganz engen Zusammenhang steht.   Dabei gestaltet der Amerikaner diese Suchen immer anders. In vielen seiner Bücher ist dabei die Reise, die manchmal klassisch klischeehafte Quest das wichtigere Element im  Vergleich zum Ankommen. In den meisten seiner Romane ist dabei der Ausbruch unabhängig von den Faktoren relativ wichtig, denn seine Ich- Erzähler (unabhängig vom Geschlecht) passen im Grunde nicht in das nicht nur dörfliche, sondern hinterwäldnerische Texas, in dem sie zwischen brutalen wie debilen Menschen eher dahin fristen und ihre unverkennbaren, vielleicht dramaturgisch ein wenig überzogenen Fähigkeiten, die während der Odyssee nicht nur gefordert, sondern vor allem auch gefördert werden, erstaunlich effektiv einsetzen können.

Seine wichtigsten Figuren stehen immer an der Schwelle zum Erwachsensein, was im unwirtlichen Osttexas relativ schnell gehen kann. Der sechzehn Jahre alte Jack verliert seine Eltern an die Pocken. Als er mit seiner Schwester unter den Fittichen des Großvaters zu entfernten Verwandten gebracht werden soll, kommt es zu einer doppelten Katastrophe.  Die Fähre über den Strom sinkt und gleichzeitig entführen die wenige im Augenblicke zuvor im Streit mit seinem Großvater gewesenen Banditen seine Schwester. Wie durch ein Wunder überlebt Jack. In der nächsten kleinen Ortschaft kann ihm das Gesetz nicht helfen. Also heuert er eine Handvoll sehr erstaunlicher Helfer an, die bis auf den Keiler während der Reise alle ihre tragischen Lebensgeschichten erzählen. Angeführt wird die seltsame Schar von einem belesenen Liliputaner, der sich vorher als Kopfgeldjäger und Zirkusattraktion verdingt hat.  Natürlich heißt der Liliputaner Shorty. Auch wenn der etwas blasse Ich- Erzähler im Mittelpunkt der Handlung steht und das Verbindungsglied zum teilweise wegen der brutalen Gewalt auch schockierten Leser bildet,  wird Shorty mehr und mehr nicht nur zu einem Ersatzvater, sondern zu der Person, welche die Mythen des Wilden Westens mit zynisch lakonischem Humor demontiert und vielleicht ein realistischeres, Peckinpahs Filmen entsprechendes Bild dieser Zeit malt. Shorty ist weniger an seinem ausgeprägten Ego, sondern lange Zeit an den Vorurteilen der Menschen  gescheitert. Er ist ohne Frage auch brutal, wenn es notwendig ist. Er ist belesen – Mark Twains Reisegeschichten sind seine Lieblingslektüre -  und ein Grübler. Natürlich ist er auch ein Kopfgeldjäger, aber unabhängig von seiner Brutalität gegenüber Verbrechern ist er auch ein erstaunlich fairer Mann, der einem persönlichen Ehrenkodex folgt. An seiner Seite steht mit dem Totengräber und Sohn einer Sklavin Eustace ein Farbiger, der seine körperlichen Defizite ausgleicht. Dessen bester Freund ist ein gigantischer Eber, der manchmal wie ein Hund aufs Wort hört, dann wieder zur Kampfmaschine wird. Ein vielleicht zu bizarres Beiwerk in einer ansonsten realistisch bodenständigen Geschichte, die wie Jack im Epilog ausführt, wahr oder auch teilweise erfunden sein könnte.  Das Zusammenspiel zwischen den drei so unterschiedlichen Figuren bestimmt nach einem rasanten, hektisch, den Leser mit Informationen förmlich überflutenden Auftakt die erste Hälfte des Romans. Im Gegensatz zum Leser, zu Eustace und zu Shorty ahnt Jack nicht, was die Schurken mit seiner Schwester in der Zwischenzeit anfangen werden. Trotz aller Warnungen träumt er noch vom Happy End, wo er die Unschuld wieder in die inzwischen sehr kleine Familie zurückführen kann. Diese Naivität – sie bröckelt, verschwindet aber niemals wirklich – erscheint unpassend, aber da Lansdale seine Geschichte auch in einer Art süßlich ironischen Happy End nach der ganzen Gewalt enden lässt, akzeptiert der Leser diese Warmherzigkeit in einer eiskalten Welt. Im Laufe ihrer Suche insbesondere nach Fatty, der sich von der Bande abgesetzt hatte und die Verfolger auf Irrwegen in das den Titel gebende Dickicht führt, wird das Team um einen örtlichen Sherriff und ebenfalls ehemaligen Kopfgeldjäger sowie seinen schwarzen Boy erweitert. Diese beiden Figuren wirken zu eindimensional, zu sehr den Erwartungen der Leser geschuldet und haben das Wort potentielles zukünftiges Opfer zu sehr auf die Stirn gedrückt bekommen, als das ihr grausames Schicksal am Ende wirklich rühren kann. Mit der attraktiven Hure natürlich mit einem Herzen aus Gold, die aus dem Milieu ausbrechen will, fügt Lansdale eine weitere sympathische, sich aber am Rande des Stereotyps bewegende Figur ein. Mit ihren lockeren Sprüchen und ihren offenherzigen Ansichten zu Beziehungen wirkt sie aber wie ein Mittler zur Gegenwart und der lebende Kommentar zur Selbstverwirklichung der Frau in einer Männerwelt. Nur hat Lansdale nicht den Mut, diesen Weg bis zum Ende zu beschreiten. Am Ende ist es doch wieder eine Männerwelt, in der Frauen nur in Friedenszeiten an der Seite eines, am besten ihres Mannes etwas zu suchen haben. Der Leser hätte der wichtigsten weiblichen Figur des Romans eine Sekunde des Ruhms nach den ganzen Qualen mit Freiern gewünscht.

 Dank sehr gut übersetzter, pointierter und doppeldeutiger Dialoge charakterisiert Lansdale seine Frontiergesellschaft als eine Mischung aus Aberglauben, Vorurteilen, einer fragwürdigen Gottesgläubigkeit und schließlich einer bizarren puritanischen Einstellung immer dem Anderen gegenüber.   

Dazu kommt eine karge Landschaft, die den ehrlichen Bewohnern sehr viel abverlangt, während die Schurken auf brutale Art und Weise die Menschen ausplündern. Betrachtet man am Ende der Geschichte, wie viele unschuldige Menschen zur Rettung eines Einzelnen und der entsprechenden Bestrafung der Verbrecher ums Leben gekommen sind, wirkt das Verhältnis unglaubwürdig. Aber Lansdale übertreibt in seinen Beschreibungen nicht. Hier sterben Menschen qualvoll an Schussverletzungen. Wie bei Tieren ist das Erlösen vom Leid manchmal das einzig Menschliche in dieser Welt. Dabei verschiebt sich der Fokus aber. Während einer der Handlanger Fatty auf dem Weg in das angeblich so schwierig zu durchdringende Dickicht förmlich in Blut badet, erscheint sein Chef Cut Throat Billy zu Beginn und am Ende der Geschichte zu selten, um Respekt, Angst oder Widerwillen im Leser zu erringen. Das Ende mit seiner eskalierenden Brutalität ist angesichts der langen Vorgeschichte fast zu kurz und der Sieg über die Banditen inklusiv des Wunderschusses zu einfach, als dass „Das Dickicht“ gänzlich zufriedenstellen kann. Eine Schwäche, die mehr als einen Lansdale Roman leider negativ auszeichnet.

Es ist ein nicht unbedingt ungewöhnliches, aber dem modernen Spätwestern entsprechendes Bild, das Lansdale in dieser stringenten, lesenswerten und vor allem dreidimensionalen Geschichte zeichnet. Den angesprochenen  Schwächen stehen auf der anderen Seite sehr viele Stärken beginnend mit der interessanten Antiheldengruppe, der gelungenen Atmosphäre und der verstörend faszinierenden Mischung aus abstoßender Gewalt und simplen Gedankenspielen über das große Geheimnis des Lebens gegenüber. In seine Suche nach der  entführten Schwester hat Lansdale so viele interessante Nebenschauplätze eingebaut, dass der Leser manchmal vergisst, dass es sich in erster Linie um einen gut geschriebenen Spannungsroman von unglaublicher Intensität handelt.       

Roman, aus dem Englischen von Hannes Riffel (Orig.: The Thicket)
1. Aufl. 2014, 331 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-50135-3

Tropen Verlag

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