Echopraxia

Peter Watts, Echopraxia, Rezension, Thomas Harbach
Peter Watts

“Echopraxia” zeigt eindrucksvoll und nachdrücklich die Stärken und leider auch Schwächen in Peter Watts Werk. Mit dem ebenfalls im Heyne Verlag veröffentlichten Roman „Blindflug“ ist Watts für den HUGO nominiert worden. Auch wenn „Echopraxia“ keine klassische Fortsetzung darstellt, zwingt Peter Watts seine Leser, diese beiden Bücher miteinander zu vergleichen.  In beiden Romanen – das gilt fast für das ganze Schaffen – steht im Mittelpunkt ein gesellschaftlicher Einzelgänger, der sich gegen die virtuellen Trends seiner Umwelt nicht unbedingt aktiv wehrt, sondern sie passiv nicht akzeptiert. In „Echopraxia“ spricht Daniel Brüks mehrfach davon, dass ihn Gruppenintelligenzen überhaupt nicht interessieren und er mit seiner Umgebung nichts anfangen kann. Um diese Isolation noch deutlicher herauszuarbeiten, müssen Watts Protagonisten lernen, mit Verlustängsten umzugehen.  Die Ausgangssituation ist zu ähnlich. Ein Familienmitglied schließt  sich den Gruppenintelligenzen im virtuellen Himmel an. Anstatt vielleicht in dieser Welt ohne wirklich intellektuellen Tod ein dem Leser bekanntes Szenario zu etablieren, kopiert sich Watts nicht nur auf der persönlichen Ebene selbst, sondern auch hinsichtlich der Grundstruktur des Plots, wobei der Autor deutlich umständlicher und damit auch konstruierter agiert als in dem in dieser Hinsicht deutlich zugänglicheren „Blindflug“.  In beiden Romanen wird eine Mission ausgeschickt, um hinter dem Horizont auf wirklich fremdartige Aliens zu treffen. Während in „Blindflug“ allerdings der Protagonist deutlicher zugänglicher und die Mission einfacher strukturiert worden ist, versucht Watts mit einem unsympathischen, fast wehleidigen Antihelden, einer aus Chiffren bestehenden Crew und einer viel zu kurzen Begegnung mit den dann allerdings wieder überzeugenden Aliens den Fokus dieser Geschichte zu verrücken. Diese Vorgehensweise funktioniert nur beding, da der Leser inzwischen weiß, dass es Peter Watts auch anders kann. 

Das Bemühen, die gleiche Geschichte im Grunde aus einer gänzlich anderen Perspektive zu erzählen, ist durchaus vorhanden. Der Biologe Daniel Brüks bietet weniger als Persönlichkeit, sondern aufgrund seiner persönlichen Einstellung ausreichend Potential.  Während andere Menschen sich wie eingangs erwähnt dem virtuellen Himmel anschließen, will er alleine in der Wüste leben.  Er hat sich auch nicht für den ersten Kontakt mit den Außerirdischen interessiert. Plötzlich findet er sich an Bord einer weiteren Mission wieder, welche gleichzeitig nach den Fremden schauen und das Schicksal des inzwischen verschollenen ersten Raumschiffes – der Theseus – aufklären soll.  Während die Ausgangslage allenfalls rudimentär originell ist, verschenkt der Autor anschließend Potential. Der Atheist Brüks wird mit einem Orden religiöser Fanatiker – wobei Watts in Bezug auf die Religion eine ambivalente Position einnimmt – an Bord einer Orbitalstation konfrontiert.  Brüks lehnt ihre Einstellung ab. Watts bleibt aber im Vergleich zu anderen signifikanten Werken, die sich mit Religion und Außerirdischen auseinandersetzen, an der Oberfläche. An Bücher wie „Sparrow“ kann der Autor angesichts der funktionalen Zeichnung seiner Figuren vom Grunde auf nicht heranreichen, aber warum er den Fehdehandschuh so unmotiviert angesichts des interessanten Ausgangsprämisse aufnimmt, lässt sich insbesondere in der ersten Hälfte des Buches zu wenig erklären.  Mit einigen Irrungen und Wirrungen, die zu viel Raum in diesem Buch einnehmen und kritisch gesprochen den eigentlichen Plot nicht vorantragen, findet sich Brüks an Bord eines Ordensschiffes wieder, das ihn zur Ikarus Station bringen soll. Angeblich haben die Fremden diese Station infiltriert. An Bord befindet sich ausreichend Posthumane. Dabei ist das Spektrum, das der Biologe Watts anspricht, durchaus bemerkenswert und stellt rückblickend die stärkste Seite des ganzen Buches da. Es gibt in dieser futuristischen Gesellschaft wieder Vampire, wobei sich der Autor den klassischen Vorlagen mit der Opfer/ Täter Mentalität bewusst ist. Natürlich befindet sich auch an Bord eine Vampirin. Immer wieder beschreibt Watts diese wieder erschaffenen Wesen als die Jäger, die es auf Menschen abgesehen haben. Im Gegenzug scheinen die Menschen diesen Nervenkitzel zu benötigen und suchen die Nähe dieser gefährlichen Wesen. Die Vampire ragen aus einer ansonsten eher praktischen Veränderung des Menschen heraus.  Der Autor schenkt ihnen noch fast einzigartige geistige Fähigkeiten, wobei ihre Sicht um die Perfektion auszuschalten begrenzt zu sein scheint. Die meisten Posthumane haben sich passend für ihre Aufgaben verändern lassen.   Watts beschreibt diese surrealistische Gesellschaft wissenschaftlich korrekt und im Vergleich zu einigen Cyberpunkautoren entwickelt er eine quasi biosensible Zweckgemeinschaft, in welcher fast alle Menschen ihren Platz finden. Da Brüks körperlich nicht verändert worden ist, erscheint er anfänglich als  der dümmste unter künstlich sensibilisierten und ihre Fähigkeiten bis zum Äußersten gereizten Menschen.  Brüks leidet aber nicht unter Minderwertigkeitskomplexen und es ist interessant, dass Watts es nicht abschließend schafft, diese Kunstwesen zu erdrückend überlegen zu beschreiben.   Vor allem umschifft Watts positiv wie auch in „Blindflug“ das Klischee, das natürlich gleichzeitig auch gut oder in Gefahrensituationen überlegen bedeutet.  Während das Ausgangsszenario bekannt ist, vermeidet der Autor auch im vorliegenden Band den geradlinigen Plotverlauf und verzichtet auf eine stringente Handlungsentwicklung. Watts will diese nicht mehr funktionierende, vielleicht nicht einmal mehr menschliche Gesellschaft untersuchen, wobei er zwei Schwerpunkte setzt.  Der virtuelle „Himmel“ mit seinem Aufheben der Isolation und der Erschaffung eines Gruppenbewusstseins entspricht fast der Gegenwart mit ihrer allgegenwärtigen Versuchung, im Internet als Vorläufer des echten „Himmels“ präsent zu sein.  Interessant ist, dass sich Watts und Brüks widersprechen. Während viele Science Fiction Romane den Glauben als klassische Erklärung des Unerklärbaren ablehnen und selbst Gott als mögliche künstliche Intelligenz zu rationalisieren suchen, geht Watts zwischen den Zeilen den anderen Weg. Seine Zukunftswesen sehen den Glauben, die Hoffnung und vielleicht daraus ableitet das nicht mehr erklärliche Element als mögliche Grundlage einer Gesellschaft. In einer Exkursion wird die Physik zu einer weichen Wissenschaft, die unter gleichen Testbedingungen unterschiedliche Ergebnisse liefern kann, weil sie ebenfalls tatsächlich nicht greifbar ist. Diese Thesen vor dem Hintergrund einer fremden Menschlichkeit wären faszinierend, wenn der Autor und damit auch sein wichtigster Charakter sie im Fluss gesehen hätten. Watts beginnt mehr und mehr über die Möglichkeiten zu diskutieren und vielleicht auf brüchiger Basis sogar zu extrapolieren, aber dem Buch fehlen wenn schon nicht Beweise, so zumindest schlüssige Thesen. Es wirkt wie ein Schloss aus Luft, das auf dem Glauben aufgebaut ist und doch wie eine Seifenblase platzt, weil sich niemand dieser Idee nähert.  Wenn schließlich sogar die Ergebnisse der Chaostheorie durch diese neuen Menschen vorhergesagt werden können, überspannt Watts den Bogen.  In der Theorie sind seine Wesen zu allwissend, zu allmächtig und vielleicht auch zu fremdartig. Es ist nur schade, dass der Autor ihnen keine adäquaten Aufgaben geben kann und dieser Elfenbeinturm vor allem im intellektuell herausfordernden Mittelteil handlungstechnisch zum Stillstand kommt.     

Natürlich ist es leicht, in eine bestimmte Richtung zu argumentieren.  Die Science Fiction fordert immer wieder die Entwicklung von wirklich fremdartigen Außerirdischen mit bizarren, kaum verständlichen Sozialsystemen und Moralvorstellungen, die nicht menschlich und doch irgendwie auch humanistisch zu gleich sein sollten. Eine Quadratur des Kreises, denn es ist die Phantasie der Menschen, die diese „Wesen“ entstehen lässt. Watts will nicht nur die Fremden exotisch beschreiben, sondern entwickelt auch eine übermenschliche  Gesellschaft, die unzugänglich und doch interessant zu gleich ist. Wenn die Autoren wie Iain Banks in seinen Culture Romanen oder Stross mit der „Singularität“ übertreiben, kann es zu Lasten des Leseflusses gehen und der Leser förmlich aus diesem Gedankenmodell vertrieben werden.  Da Watts im Verlaufe seines Buches bis auf die Vampire – er liebt diese Wesen so sehr, dass sie den Handlungsarm eher erdrücken als  bereichern – immer mehr darauf verzichtet, in den Intellekt seiner Posthumanen einzudringen, wirkt „Echopraxia“ eher wie eine herausfordernde Stilübung  als ein abgerundeter Roman.  Alleine für den Mut, es noch einmal zu versuchen, verdient Watts Lob. Im direkten Vergleich sollte der Leser aber erst den „Blindflug“ versuchen, bevor er zu „Echopraxia“ übergeht.    

 

  • Taschenbuch: 560 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3453528077
  • ISBN-13: 978-3453528079
  • Originaltitel: Echopraxia