Binary

Binary, Hard Case Crime, Thomas Harbach, Michael Crichton, John Lange
Michael Crichton alias John Lange

1972 erschien mit „Binary“ einer der letzten von insgesamt acht John Lange Romanen, die Michael Crichton während seiner Studienzeit unter dem Pseudonym veröffentlicht hat. Kurze Zeit später veröffentlichte er die ersten Arbeiten unter seinem richtigen Namen. „Binary“ lässt diesen Übergang sehr gut erkennen, denn in vielen Punkten erinnert er beginnend mit seiner ausgesprochen kompakten, teilweise auch den inneren Spannungsaufbau minimierenden Struktur an „Andromeda“. In beiden Bücher wird dem Plot eine Semiauthentizität gegeben, in dem dritte Quellen auf die Ereignisse berichten bzw. deren Auswirkungen beschreiben. Der erste Überfall auf einen Zug mit Nervengas der amerikanischen Streitkräfte wird mit der Worten „The Facts are these“ eingeleitet. Danach folgt eine sachliche, distanzierte Auflistung der Planung und des Einsatzes der extra für diesen Überfall angeheuerten Söldner. Nach knapp zwei Seiten ist dieses wichtige Mosaiksteinchen ohne weitere Hintergründe eingefügt. Der Leser wird durch diese ungewöhnliche Herangehensweise eher irritiert als in den Plot einbezogen. Auf der anderen Seite etabliert der Autor diesen potentiellen politischen Anschlag als nicht mehr zu ändernde Realität und rückt die Ereignisse wie einige andere Paranoiathriller der frühen siebziger Jahre Hollywoods in den Bereich des Möglichen und nicht mehr des Phantastischen.

Anschließend entspinnt sich wie der ambivalente Titel „Binary“ suggeriert das inzwischen klischeehafte wie typische Katze- und Mausspiel zwischen einem potentiellen Verrückten, der dank allerdings eher von Crichton weniger extrapolierter erzkonservativer und deswegen plötzlich radikaler Ansichten einen Anschlag auf die republikanische Partei und den amerikanischen Präsidenten plant, um sich anschließend aus dem Exil kommend dank seines Vermögens als neue politische Kraft zu etablieren. Diesem sich aus einzelnen Versatzstücken zusammensetzende John Wright steht der FBI Agent John Graves gegenüber, der verzweifelt nach Handhaben sucht, um Wright nicht nur kurzzeitig zu verhaften, sondern seinen dem Leser deutlich länger vertrauten Plan zu durchschauen. „Binary“ ist Computersprache. Die eins und die null dienen als Grundlagen. In dieser Hinsicht greift Crichton auch nur auf zwei dominante Charaktere ist. Da wäre Wright als Erbe eines reichen Dynastie, der sich nicht nur mit zahlreichen hübschen Frauen vergnügt und diesen Überfall minutiös auch mit Hilfe einiger Quellen aus dem inneren Kreis des Militärs plant, sondern sein Ego befriedigt. Er weiß, wer sein Gegenspieler ist und hat sich früh dessen psychologischen Tests besorgt, um seine Fallen genau auf diesen einen Mann abzustimmen. Im Gegensatz zu vielen anderen späteren Thrillern ist John Graves allerdings keine gebrochene Persönlichkeit. Der ausführlich zitierte Text seiner psychologischen Beurteilung weißt auf einige allzu menschliche Schwächen – schnelle Entscheidungsfindung ohne Kenntnis aller Fakten, ein Zurückfahren der Aufmerksamkeit vor dem Abschluss der Ermittlungen in alle Richtungen -  hin, aber Graves ist weder Alkoholiker noch unnötig aggressiv oder wird von irgendwelchen Traumata der Vergangenheit gejagt. Wright ist ihm anfänglich immer nur einen kleinen Schritt voraus, weil der Leser auf Augenhöhe von Graves nur ahnen kann, was Wright plant. Es gibt keine stichhaltigen Beweise und einige seiner Aktionen machen vordergründig keinen Sinn.

Interessant ist auch, dass sich Graves im Rahmen der Gesetze bewegen will und auf einen eindeutigen Hinweis hofft, der es ihm ermöglicht, Wright nicht nur kurzzeitig zu verhaften, sondern zu vernichten. Schwach ist, dass Crichton keine Hintergrundgeschichte entwickelt hat. Während Wright als verrückter paranoider und vor allem Machtbesessener Mensch beschrieben wird, der sich absichtlich junge und hübsche Frauen mit einem unterentwickelten Intelligenzquotienten als Partner aussucht, nachdem er dreimal bei Schauspielerinnern gescheitert ist, erfährt der Leser über Graves zu wenig. Was macht ihn so besonders, dass Wright ja anscheinend im Vorwege seine Akte angefordert und vor allem seinen Plan in den Details auf seine angeblichen Persönlichkeitsmängel abgestimmt hat? Ein anderer Agent hätte die verschiedenen, ineinander greifenden Fallen während des Showdowns vielleicht anders überwunden und Wrights Aktionen wären ins Leere gegangen. In dieser Hinsicht hätte „Binary“ einige weitere, den Hintergrund beleuchtende Kapitel ohne Probleme vertragen können.  

Crichton lässt die beiden Männer in einem eher verbalen Duell aufeinander prahlen. Interessant ist, dass der Autor das Potential dieser Begegnung wie einige andere Situationen nicht abschließend hebt. Graves ist ein Pokerspiele, der keine Risiken eingeht. Auch Wright liebt das Spiel. Indirekt verabreden sie sich verklausuliert zu einem Duell, das abschließend nicht stattfindet, weil Crichton einen der beiden Protagonisten fast aus dem Nichts kommend eliminiert und den anderen mit dessen unheilvollen Erbe zurücklässt. Heute Lesergenerationen erwarten hinsichtlich dieses Szenarios eine falsche Spur oder eine „Deus Ex Machina“ Erweckung, aber in dieser Hinsicht spielt Crichton in diesem mehr als vierzig Jahre alten Text fair mit seinen Lesern. Einer der Protagonisten ist unausweichlich tot und um Millionen von Menschen zu retten, muss der andere nicht nur erfolgreich agieren, sondern quasi die eigenen Schwächen im Hinterkopf immer gegen die Realität testen. Wie eingangs erwähnt hat Michael Crichton einen ausgesprochen distanzierten, sachlichen Thriller verfasst. Erst in Büchern wie „Andromeda“ wird er noch mehr auf seine Figuren eingehen und diese vermenschlichen. Es ist erstaunlich, wie viele Informationen der Leser auf eine im Grunde unliterarische und deswegen den flotten Lesefluss an keiner Stelle hemmende Art und Weise erhält. Manchmal ist es nur ein Nebensatz, der von heutigen Thrillerautoren zu ganzen Kapiteln ausgebaut worden wäre.

Dieser Fokus auf den Anschlag, auf den finalen Plot hat Vor- und leider auch Nachteile. Einer der Nachteile ist, dass der Leser sich an keiner Stelle wirklich vorstellen kann, dass Wright erfolgreich sein könnte. Da hilft der Countdown rückwärts genauso wenig wie der kurze Auftritt des amerikanischen Präsidenten. Jahre später wird „Schwarzer Sonntag“ diese Idee des ultimativen Anschlags wieder aufnehmen, den Leser aber deutlich länger im Dunkeln lassen und deswegen auch hinsichtlich der Spannungskurve mehr überzeugen. Wenn am Ende Graves mit einer Handvoll Militärs und Polizisten mit zahlreichen Fallen – selbst der Auftritt dieses besonderen Nervengasspezialisten des amerikanischen Militärs ist von Wright vorhergesagt und deswegen zumindest in der Theorie gekontert worden – die Stadt vor dem Anschlag und Millionen Menschen vor einem qualvollen Tod retten muss, läuft das Geschehen zu konstant und zu wenig dynamisch ab. Crichton beherrscht zumindest in „Binary“ die Kunst der Tempowechsel, des Aufbaus der bedrohlichen Atmosphäre und daraus resultierend die Weiterentwicklung der Spannungskurve zu wenig, als dass „Binary“ wirklich unter die Haut geht. Alle Zutaten sind da, trotzdem schmeckt der Kuchen nicht.

Das liegt vielleicht auch daran, dass der Handlung im Grunde zu geradlinig und zu dünn ist. Unabhängig von seiner Erfahrung mehrerer Bücher enden einige der sehr kurzen Kapitel mit einem Cliffhanger, der weniger provoziert als frustriert. Zu mechanisch aufgebaut. Wie erwähnt werden wichtige Informationen allerdings durch die in den siebziger Jahren noch nicht so effektiv genutzten modernen Medien übertragen. Der Kontrast zwischen dem Zur-Verfügung-Stellen von Informationen und der ausschließlich menschlichen Einordnung ist allerdings relativ simpel. Tom Clancy wird in „Der Anschlag“ mit der verschollenen Atombombe diese Idee noch einmal aufnehmen. Während dort die Bombe quasi ausgegraben, der Anschlag auf konsequent bis zum Ende durchgeführt wird, wirkt der Diebstahl dieser ultimativen Waffe – auch hier gibt es einen kurzen, allerdings belehrend erscheinenden Exkurs in die Geschichte der Chemiewaffenentwicklung, der in der Gegenwart mit der Vernichtung ganzer Städte im Irak oder Syrien so herrlich naiv und weltfremd erscheint – zu leicht. Vielleicht wollte Crichton Kritik an der Leichtgläubigkeit und Arroganz der amerikanischen Militärs äußern, der Leser darf aber auch nicht vergessen, das sich das Land vor Watergate mit den Rassenunruhen und dem Vietnamkrieg schon in einem labilen Zustand befunden hat. Davon findet der Leser nichts. Es ist ein geradliniger frühzeitlicher Technothriller, der absichtlich an der Oberfläche kratzt, aber niemals tief eindringt.

Zu den Stärken gehört, dass Crichton ein intelligenter Autor ist. Er baut nicht nur in „Binary“ moderne Technik ein. Vom Vater des Techno Thriller zu sprechen erscheint angesichts einiger Schwächen im vorliegenden Band vor allem hinsichtlich der Hintergründe übertrieben, aber Nachrichtenübermittlung und vor allem technische Ideen ragen aus vielen eher bodenständigen Machothrillern mit überzogenen Heldenfiguren deutlich heraus.     

 Der Plot wirkt zwar wie für einen Fernsehfilm der Woche und weniger das Kino entwickelt – eine ähnliche Schwäche weißt „The Terminal Man“ aus der dann offiziellen Feder Michael Crichtons auf -, aber durch einzelne Schlaglichter und vor allem eine konsequent fokussierte und vor allem von allem unnötigen Ballast befreite Handlung  liest sich der Plot auch vierzig Jahre nach seiner Entstehung immer noch erstaunlich frisch.     

October 2013, Paperback, Hard Case Crime
ISBN: 978-1-78329-125-0
Cover art by Glen Orbik

220 Seiten

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