Der Palast des Poseidon

Thomas Thiemeyer

Mit Thomas Thiemeyers “Der Palast des Poseidons” liegt nach “Die Stadt der Regenfresser” der zweite Band der Chroniken der Weltensucher vor. Im Gegensatz zum Auftaktband, in dem Thomas Thiemeyer die unterschiedlichen Aspekte und die faszinierende Mischung aus einer geschichtlichen Betrachtung der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts sowie einer packenden, abenteuerlich phantastischen Geschichte zu einem festen Seil verbinden musste, kann sich der in Stuttgart lebende Autor im vorliegenden Band mehr auf den eigentlichen Plot konzentrieren. Im Gegensatz zu der eher an Arthur Conan Doyle oder Sir Henry Haggard erinnernden Abenteuergeschichte verbeugt sich Thomas Thiemeyer dieses Mal expliziert vor dem Genius Jules Verne und seinem aufregenden Roman “20.000 Meilen unter den Meeren”. Verne hat nicht nur einen kleinen Gastauftritt - obwohl er in Thomas Thiemeyers Welt das Schreiben anscheinend nach seinem Buch “In achtzig Tagen um die Welt” aufgegeben hat -, sondern die Charaktere sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Ansicht, in einer Art Variation der Verne´schen Geschichte zu agieren. Nicht umsonst hat das potentielle “Schurke” - eine überdeutliche Hommage an Kapitän Nemo - Ideen aus Vernes Buch verwirklicht. Thomas Thiemeyer kann sich nicht - positiv gesprochen - zusätzlich den überdeutlichen Hinweis verkneifen, das Lesen nicht nur bildet, sondern in diesem Fall auch Leben rettet. Alleine der jugendliche Protagonist und die hauptsächliche Identifikationsfigur seines Publikums Oskar hat den Roman in einer ungekürzten und deswegen für den Plotverlauf relevanten Fassung gelesen.
Unabhängig von diesen Anspielungen inklusiv der Unterwasserstadt; dem von Menschenhand erbauten Tauchboot sowie der humanistisch friedliche Idylle tief unter der Meeresoberfläche, die natürlich weder perfekt noch paradiesisch oder gar langlebig ist, mischt Thomas Thiemeyer Anspielungen auf Capes “Roboter” oder Ideen aus dem Steampunk mit einer emotionalen, weiblichen künstlichen Intelligenz in die ausgesprochen stringent und rasant geschriebene Handlung. Die Legende um Atlantis - für dessen Untergang Thomas Thiemeyer Ideen aus der Pulp Science Fiction vorsichtig abstaubt und modernisiert präsentiert - inklusiv einer interessanten Verschiebung der geographischen Lage wird leider im zweiten, zu hektischen und stellenweise plottechnisch arg konstruierten und zu wenig fließend erzählten Teil gestreift. Immer wieder möchte der Leser mehr über die vielen Ideenschöpfungen - die kraftvolle Kristallenergieglocke oder die Kultur unter dem Meeresgrund - Thiemeyers erfahren, alleine es fehlt der Platz. Im Vergleich zum Auftaktband der Serie, dessen Plotstruktur spürbar besser funktioniert hat, hätte “Dem Palast des Poseidon” entweder eine Doppelband in der Tradition Jules Vernes gut zu Gesicht gestanden oder Thomas Thiemeyer hätte im ersten, zwar dynamisch erzählten, aber genauer betrachtet zu wenig wirklich das Tempo erhöhenden ersten Teil einfach kürzen müssen. Zu oft hält sich der Autor mit plottechnisch unnötigem Beiwerk auf. Das beginnt mit Oskars Rauferei mit Ganoven aus seinem alten Viertel. Seine “Freunde”, die immer noch unter der Knute eines Geldeintreibers stehen, helfen ihm. Er verspricht ihnen, sie freizukaufen. Eine ähnliche Sequenz findet sich im ersten Buch. Am Ende des Romans wird - in der unglaubwürdigsten und leider zu kitschigen Szene des ganzen Buches - von seinem Mentor Carl Friedrich von Humboldt adoptiert, nachdem dieser festgestellt hat, das er möglicherweise doch der Vater Oskars aus einer kurzen, aber Leidenschaften Liebschaft mit einer Schauspielerin sein könnte. Das Verhältnis zwischen Oskar und seinem Mentor ist ausgesprochen gut. Auch wenn der aktivere, clevere Oskar nicht selten im Vergleich zum deutlich gesetzten, sowie stellenweise zu theoretisierend phlegmatisch beschriebenen von Humboldt einmal zu oft die Kohlen aus dem sinnbildlich geschrieben Feuer holen musste, hat Thomas Thiemeyer diese platonische Beziehung mit sehr viel Gefühl und Tiefe beschrieben. Im zweiten Buch der Serie den unausweichlichen und zumindest hinsichtlich von Oskars Vergangenheit nicht zwingend erforderlichen Schritt weiterzugehen, wirkt überhastet. Alle anderen Nebenfiguren inklusiv des auf den ersten Blick bösartigen Schurken sind trotz dem Hang zu Actionszenen und sehr viel dramatischer Dynamik überzeugend bis dreidimensional gezeichnet. Thomas Thiemeyer hat sich inzwischen in seine einzelnen Charaktere förmlich hineingearbeitet und im Vergleich zu seinen für ein erwachsenes Publikum geschriebenen Bücher erscheinen sie lebhafter, lebendiger.
Um noch mehr Spannung zu erzeugen und für den Leser etwas überambitioniert die “Helden” vom zweiten Moment - der erste gehört einem klassischen Prologcliffhanger - in Gefahr zu bringen, hat Thomas Thiemeyer eine Idee aus Vernes “Die Leiden eines Chinesen in China” variiert. Die eigentlichen Schurken, die ihre Machenschaften von vor zehn Jahren vor Aufdeckung schützen möchten, engagieren einen Auftragskiller, den Norweger, der einmal losgeschickt sich nicht mehr zurückrufen lässt. Er ist entschlossen, von Humboldt zu töten. In loser Folge gehen insgesamt drei mehr oder minder intelligent geplante Anschläge auf das Leben des Forschers teilweise entsetzlich schief, wobei die eigentlichen Pläne derartig kompliziert und durch zufällige Entdeckung jederzeit gefährdet sind, das sich der Leser in Anspielung auf manchen James Bond oder “Die Hard” Film fragt, warum manche “Schurken” es nicht auf einem direkten Weg versuchen. Dann wäre der Roman natürlich zu Ende. Da es sehr unwahrscheinlich ist, dass in einem Jugendbuch die Helden schon in der Mitte des Plots getötet werden, wirken diese Szenen selbst für Zwölfjährige eher absurd und angesichts des zahlreichen Wunder und Entdeckungen, die Thomas Thiemeyer im Verlaufe des Buches noch präsentiert, wie Seitenverschwendung.
Kaum haben sich Meereswellen über den Charakteren in ihrer modernen Tauchglocke geschlossen, werden die Zwischentöne wie in seinen für ein Erwachsenes Publikum geschriebenen inzwischen fünf Romanen kritischer. Der Autor setzt sich nicht nur auf eine ausgesprochen nuancierte Art und Weise mit der Verantwortung des Wissenschaftlers für seine Schöpfung und deren Missbrauch auseinander, er zerlegt analytisch die Alibiausreden, die sich überdimensionale Schurken von Nemo an für ihr schlechtes Gewissen zurecht gelegt haben. Mancher Monolog erinnert ein wenig zu stark an Jules Verne, aber immer kurz bevor Thiemeyer allzu sehr in Richtung literarischer Vorlage abzudriften droht, fängt er sich auf erstaunliche Art und Weise wieder und bekommt den Bogen zu einer interessanten Actionszene oder lenkt mit niemals belehrenden, aber interessant präsentierten Hintergrunderklärungen ab. Manchmal haben insbesondere ältere Leser das unbestimmte Gefühl, als habe Thomas Thiemeyer zumindest mit dem vorliegenden Band der Serie eine Art deutschen Gegenentwurf zu den Verne´s Reiseerzählungen konzipieren wollen. Die schwierige Stimmung zwischen Nationalismus und Aufbruch ins 21. Jahrhundert inklusiv zahlreicher, rückblickend gefährlicher wie in militärischer Hand tödlicher Erfindungen trifft Thomas Thiemeyer in dem stilistisch ausgesprochen angenehm zu lesenden Roman sehr gut. Darüber hinaus verweist der Autor immer wieder auf historische Persönlichkeiten - neben dem Trojaentdecker Schliemann, dem schon erwähnten Jules Verne auch beispielsweise auf Rimbault - und gibt seiner fiktiven, zeitlosen Abenteuergeschichte einen geschickt aufgebauten historischen Rahmen. “Der Palast des Poseidons” fällt qualitativ im Vergleich zum ersten Band der Serie leicht ab, zu vieles ist zu vorhersehbar und insbesondere das Ende wirkt wie schon angesprochen zu abrupt, zu übereilt. Weitet man die Perspektive, gehören die “Chroniken der Weltensucher” zu den am meisten erfrischenden Jugendserien am Markt, die den Bogen vom klassischen Abenteuergarn ein wenig in Richtung Steampunk schlagen und trotzdem eigenständig geblieben sind.

Thomas Thiemeyer: "Der Palast des Poseidon"
Roman, Hardcover, 480 Seiten
Löwe Verlag 2010

ISBN 9-7837-8556-5766

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