PR Neo 39- Der König von Chittagong

Michael Marcus Thurner

Mit Michael Marcus Thurners „Der König von Chittagong“ etabliert der Zyklus „Das große Imperium“ einen zweiten auf der Erde spielenden Handlungsstrang. Im Gegensatz zum letzten Zwölfteiler überzeugt dieser Spannungsbogen mit dem Robinson Manoli auf Topsid deutlich mehr. Zumal sich Michael Marcus Thurner nicht nur mit diesem Roman, sondern auch „Töte Dorian Hunter“ im Zaubermond- Verlag aus einer kleinen Schöpfungskrise geschrieben hat. In Bezug auf den Exposeautoren Frank Borsch ist positiv hervorzuheben, dass er sich mit grünen, sozial kritischen, aus der Gegenwart in die „Neo“ Zukunft übertragenen Themen deutlich wohler fühlt und sie in diesem Band für den Leser nachvollziehbar, auf den Spuren Ian McDonalds und seiner „BRIC“ Staaten Trilogie wandelnd überzeugend umsetzt.
Im Auftrag von Administrator Adams sollen John Marschalls Mutanten nach weiteren parapsychisch begabten Kindern/ Jugendlichen/ Erwachsenen suchen, die in Anlehnung an die „X- Men“ in einem speziellen Institut geschult werden sollen. In Chittagong soll es einen Jungen geben, der die Struktur von Metallen verändern kann. Die Idee, den Mutanten mehr Fähigkeiten als in der alten Serie zu geben, ist ohne Frage reizvoll und verführerisch. Auch die Prämisse, diese nicht selten unterentwickelten Fähigkeiten zu schulen und zu fokussieren, könnte für spätere „Neo“ Abenteuer wichtig sein. Auf der anderen Seite zeigt sich aber am Ende des vorliegenden Buches, dass diese Fähigkeiten zu Gunsten der Glaubwürdigkeit der Gesamtstruktur nicht zu übertrieben dargestellt werden sollten. Unfreiwillige Zeitreise durch Transmitter ist eine Sache, Paralleluniversen dagegen eine Büchse der Pandora, die in der Heftromanserie überwiegend ignoriert oder geschlossen gehalten worden ist.
Auf Augenhöhe von Tako Kakuta und Wuiru Sengu erhält der Leser einen atmosphärisch dichten Eindruck einer außer Kontrolle geratenen Welt, die im Schatten der inzwischen zusammengebrochenen industriellen BRIC Staaten Entwicklung mit der Entsorgung des Zivilisationsmühles vom Giftfass bis zu ganzen am Strand ausgeschlachteten Kreuzfahrtschiffen zu Kämpfen hat. Eine staatliche Ordnung gibt es selbst in der Metropole Chittagong nicht mehr. Verschiedene Banden beherrschen einzelne Viertel und der Sextourismus ist inzwischen von Thailand in diese polizeilich nicht mehr zu kontrollierende Enklave aus Thailand umgezogen. Michael Marcus Thurner beschreibt vor den Augen der staunenden Leser einen derartig nihilistischen Gegenentwurf zu Perry Rhodans „Terrania“ – egal ob der Betrachter sich die alten Heftromane oder die „Neo“ Taschenhefte vor Augen hält -, das Rhodans mehrfach angesprochener Traum im Grunde nur eine Illusion einer Handvoll Menschen sein kann. Ein wenig unglaubwürdig erscheint, dass die beiden Asiaten Kakuta und Sengu von dem brutalen, kriminellen Umfeld Chittagongs überrascht sind. Dabei geht es weniger um die nachvollziehbaren Details, sondern das Große. Wenn einer der geschäftstüchtigen Jungen erst die kleineren Geschwister anbietet und dann zugibt, das er für die Touristen schon zu alt geworden ist, regt es nicht nur bei den beiden Mutanten zum Nachdenken kann. Überrascht können sie von dieser Art pragmatischer Feststellung allerdings nicht sein. Genauso unglaubwürdig erscheint, dass Tako nach Auffinden des Jungen ihn mit Gewalt von Perry Rhodans Mutantenschule überzeugen will. Am Ende des Plots versucht Thurner eine Erklärung nachzuliefern, aber die bis dahin realistische Szene gipfelt so ihn Unglaubwürdigkeit. Das die Bewohner Chittagongs unabhängig von ihren Mutantenfähigkeiten die Träume eines Rhodans als unrealistische Narretei ansehen – was „Neo“ bislang auch nachhaltig unterstrichen hat – erscheint nicht abwegig. Warum Tako Kakuta darauf so reagiert, wird nicht weiter extrapoliert. Nach einer kurzzeitigen Ohnmacht und dem Entschwinden des Jungen finden sich Kakuta und die eigens ohne Wissens Marschalls herbeigerufene Ariane an Bord des ehemaligen Luxusliners, der zum Abwracken bestimmten „Allure of the Stars“ wieder. Hier treffen sie auf Andre Noir, der sich als charismatischer „Herrscher“ des Viertels entpuppt. Mit Andre Noir in der vorliegenden Form ist Thurner ohne Berücksichtigung dessen übertriebener Fähigkeiten ein charismatischer, dreidimensionaler, dunkler, bedrohlicher und Rhodan gewachsener Charakter gelungen. In der alten Serie war Andre Noir ein ruhiger, fast gemütlicher Mensch, der über die Fähigkeit der Telehypnose verfügte. In „Neo“ muss im Leser eher unglaubwürdig noch die Idee geweckt werden, dass er Menschen intellektuell mit einem Paralleluniversum „Ich“ austauschen könnte. Es wirkt zwar beunruhigend, wenn er Kakuta fragt, ob er nach dem Aufwachen aus der Ohnmacht wirklich noch er selbst ist, aber auf den ganzen Plot bezogen hätte ein starker Hypno ausgereicht. In den „Neo“ Romanen heißt seine Fähigkeit jetzt „Changeur“, er kann aus Paralleluniversen so genannte Silhouetten holen und gegen die „Originale“ austauschen. Dabei hofft er, dass die nicht identischen Zwillinge für ihn in der jeweiligen Situation nützlich sind. Das wirkt unnötig kompliziert, zumal die Gabe nicht effektiv nutzbar ist. Oder verfügt Noir auch noch über die Fähigkeit, aus einer unbekannten Zahl von Paralleluniversen rein instinktiv nach dem Richtigen greifen zu können oder geht er mit an Superrechner erinnernder Geschwindigkeit die einzelnen Möglichkeiten durch und errechnet sich immer die Chancen, zum Ziel zu kommen? Der Hang zur Übertreibung bei einzelnen Facetten der „Neo“ Serie zeigt sich hier überdeutlich. Da wurde eine phantastische Idee womöglich aus Comics kopiert. So entwerten sie den überzeugend gezeichneten Andre Noir, der als Mischung aus opportunistischen Realisten im Vergleich zu Rhodans Phantasten keine direkte Bedrohung darstellt. Er sichert seinen Lebensraum ab. Interessanterweise greift er Perry Rhodan und Terrania nicht direkt an, sondern schottet das Leben der Seinen mittels Warnungen vor weiteren Zugriffen ab. Wenn er einen korrupten indischen Politiker durch Austausch zwingt, Hilfsmittel für die darbende Bevölkerung freizugeben, dann erscheint Andre Noir eher als der „Held“, den Neo mangels einer überzeugenden Charakterisierung Perry Rhodans dringend benötigt. Die Mutanten sind eher die Aggressoren, zumal Thurner Noir durch einen Schutzschirm anscheinend arkonidischer Technik hindurch angreifen lässt. Es bleibt abzuwarten, in welche Richtung sich dieser Handlungsteil entwickeln wird, aber bislang handelt es sich um einen der am meisten überzeugenden, stimmungstechnisch nachhaltigsten Seitenarme der an Tiefpunkten nicht armen „Neo“ Handlung.
Der zweite Handlungsbogen mit verschiedenen anderen Mutanten und einer körperlichen Liebesbeziehung zwischen Tatjana Michalnowna und John Marschall überzeugt dagegen weniger. Die sechszehnjährige Sue Maifiore versucht ihre Fähigkeit der Krankheitsdiagnose und zumindest Selbstheilung mit einem begleitenden Medizinstudium zu verfeinern. Der Are Fulkar will, das sie neben ihren Kräften auch die Grundbegriffe der Medizin lernt und praktisch anwendet. Interessanterweise gibt es weder Verständigungsprobleme noch braucht der Ara eine medizinische Anlaufphase, um Menschen zu heilen. Vom Wesen her ist der leicht cholerische, ein wenig arrogante Fulkar ein klassischer Vertreter seines Geschlechts. Die bislang schwerste Aufgabe für Sue Maifiore ist, sich um den dahin vegetierenden Quinu Soptor zu kümmern. Hilfe kommt von Grek 691, dessen Bewusstseinskonserve von Novall übergeben wird. Die Kopie des Bewusstseins hat allerdings fatale Folgen. Wie schon angesprochen ist dieser Handlungsbogen deutlich uneinheitlicher. Thurner gelingen einige sehr gute emotionale Szenen, in denen zum Beispiel eine durch Übermüdung verletzte Arbeiterin Maifiore anfleht, ihr auch einen neuen Arm wachsen zu lassen. Die Diskrepanz zwischen den noch „ungefestigten“ Mutantenfähigkeiten und der erdrückenden Erwartung insbesondere Öffentlichkeit wird sehr gut beschrieben. Auf der anderen Seite verliert sich dieser Handlungsbogen in unzähligen, nicht immer wirklich pointierten Dialogen und Monologen, bei denen Fulkars bissige Bemerkungen noch positiv herausragen. Wenn am Ende der sich kontinuierlich selbst überschätzende Sid Gonzales aus seinem Quartier verschwunden ist, verspürt der Leser zumindest für einen Moment nicht unbedingt Bedauern. Interessanterweise weißt Michael Marcus Thurner eine Reihe von Schwächen in der B- Note auf. Im Gegensatz zu Andre Noir, der sich anscheinend um die ihm sicherlich auch auf einer kriminellen Ebene folgenden „Jünger“ sorgt, werden wichtige Mutanten wie Sue Maifiore eher ausgebeutet oder unter Druck gesetzt, um dem Leser noch unbekannte Ziele zu erreichen. Sobald dieser Weg nicht funktioniert, wird zum Leidwesen des ganzen Handlungsarms mit dem Maahk Bewusstsein eine „Deus ex Machina“ Lösung präsentiert, die ihn dieser Form weder befriedigt noch überzeugend vorbereitet worden ist. Der Leser hat das unbestimmte Gefühl, als wollen die Autoren sich nicht zufriedenstellend entwickelnde Nebenarme möglichst schnell wieder loswerden.
„Der König von Chittagong“ lebt von einem sehr dominanten Andre Noir, der unabhängig von seiner Fähigkeit zu den besten Neuinterpretationen der alten Serie gehört. Weiterhin zeigt das Taschenheft nachhaltig, welches Potential in der Serie steckt, wenn gänzlich andere, für Perry Rhodan neue, für die moderne Science Fiction in Form von Ian McDonald oder Büchern wie „Windup Girl“ bekannte/ markante Wege beschritten werden. Es ist schade, das diese intelligente Variation bislang zu wenig genutzt worden ist, um die Zukunft wirklich neu und anders beginnen zu lassen. 

Roman, Softcover, 160 Seiten
Pabel Verlag 2013    

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