Über Kurd Laßwitz

Dieter von Reeken (Hrsg.)

Der glanzvolle Höhepunkt dieser zweiten seine „Kollektion Lasswitz“ ergänzenden Sammlung von Materialien zu Kurd Lasswitz sind die fast fünfzig Seiten mit schwarzweiß Fotos. Neben seiner Heimatstadt Gotha inklusiv Stadtplänen finden sich seltene Familienfotos der Familie, aber vor allem auch scheinbar „heimlich“ aufgenommene Fotos aus Laßwitzs Unterricht, die ein wenig an Heinrich Manns Bildungsroman „Professor Unrat“ erinnern. Kurd Laßwitzs Zeit ist noch nie in dieser Fülle und vor allem Qualität bildtechnisch zum Leben erweckt worden. Es ist aber nur der erste Blickfang einer interessanten Sammlung, die ausgehend von einem knappen selbst verfassten Lebenslaufs Lasswitz – davor stellt Herausgeber Dieter von Reeken kurz dessen Lebensdaten – zu einem lebendigen Portrait des Mannes wird. Das liegt in erster Linie an den verschiedenen gesammelten Materialien.

Sein Bewunderer und positiv gesprochen literarisch einziger Epigone Carl Grunert steuert zwei Gedichte bei. Das eine zu Lebzeiten Laßwitzs eine Bewunderung seines Werkes, das andere stellt einen Nachruf an den Schöpfer moderner Märchen da. Wie sehr Lasswitz Carl Grunerts schmales, aber interessantes Werk beeinflusst hat, kann der Leser ebenfalls im Verlag Dieter von Reeken verfolgen. Max Kalbeck steuert eine Rede zu Laßwitzs sechzigstem Geburtstag bei, die trotz des entsprechend dieser Feierstunde angemessenen Pathos ein Blick auf den jungen „Rabauken“ Lasswitz wirft, der auf der Straße gespielt und viel Unsinn gemacht hat. Der Kontrast zum später gesetzten Lehrer und vor allem Schriftsteller, in dessen Werk dieser jugendliche Unsinn allerhöchstens romantischem Schmachten gewichen ist, könnte nicht größer sein.

Aus erster und dritter Perspektive bilden die Tagebuchauszüge Laßwitzs und der Aufsatz über die „Gothaer Bürgerin Hanna Brier“ aus der Feder Brigitte- Karola Liebs das Herzstück dieser Sammlung. Die Tagebuchauszüge umfassen die Jahre 1876 bis 1883 mit der Hochzeit und dem Umzug nach Gotha, der Geburt des ersten Sohnes und schließlich der Etablierung als Schriftsteller. Auch wenn diese Tagebuchauszüge wenig dramatisches enthalten und selbst die schweren Krankheiten des Kindes/ der Ehefrau eher distanziert sorgenvoll beschrieben worden sind, geben sie einen guten Einblick in das alltägliche Leben. Nur einmal geraten die ansonsten so geordneten Finanzen in eine Schieflage. In dieser Situation ist Lasswitz froh, dass er „Schlangenmoos“ verkaufen kann. Die Einträge zeigen aber deutlich auf, dass Lasswitz nicht nur als Hobby oder aus Lust geschrieben hat, sondern das er die Einnahmen auch zum gut bürgerlichen Leben brauchte, für welches das Gehalt eines Gymnasiallehrers nicht reichte.

Ergänzt werden diese frühen Aufzeichnungen durch den sehr langen, emotionalen Aufsatz über „Hanna Brier“, Lasswitz Cousine und späte platonisch Muse, die ihn oft in Gotha hat. Es ist die Zusammenfassung eines wirklich intensiv gelebten „Lebens“. Der Leser erfährt nicht nur über das innige Verhältnis zwischen der Familie Lasswitz und den Briers. Sie war Mitglied des Gothaer Kulturkreises und der Mittwochrunde, die immerhin einen Nobelpreisträger hervorgebracht hat. Es finden sich Informationen über die Arbeitsweise Lasswitz – lange Texte nach dem Mittagsschlaf, kurze Texte wahrscheinlich auch während seine Schüler über ihren Arbeiten schwitzten – und den Einfluss, den dieser universelle Schriftsteller und Forscher auf Hanna Brier gehabt hat. Es ist ein intensives wie lebendiges Portrait einer vor dem Ersten Weltkrieg zur industriellen Oberschicht gehörenden Elite, die während der Weimarer Republik zu überleben suchte und in der DDR zumindest einen inneren überlebensfähigen Frieden gefunden hat. Hanna Brier war noch in hohem Alter geistig rüstig und nahm am soweit politisch zugelassen kulturellen Leben Teil. Es ist eine emotionale Würdigung eines langen, offensichtlich erfüllten Lebens, dass die Autorin Brigitte Karola Liebs über eine Zeit begleiten konnte. Mit dieser Fülle an Informationen insbesondere auch über den Menschen Kurd Lasswitz aus einer intimen im Sinne des Wortes Perspektive schließt sich der erste Kreis der vorliegenden Sammlung.

Rudolf Lasswitz geht in einem von zwei Arbeiten, die direkt und indirekt sich mit seinem großen Roman „Auf zwei Planeten“ auseinandersetzen, am achtzigsten Geburtstag seines Vaters auf den doppelten Einfluss des Utopisten Lasswitz ein. Das italienische Luftschiff Nobile erreicht den Nordpol und folgt den Spuren des Romans und der Raketenwagen Opels erinnert an die Marsianer. Dieses kurzweilige, aus dem Jahr 1928 optimistisch und vergeblich in die Zukunft schauende Essay kann in einem engen Zusammenhang mit „Die Numenheit“ aus der Feder Bertha von Suttners betrachtet werden, die intensiv und ausführlich 1898 auf „Auf zwei Planeten“ eingeht und neben den technischen Ideen auf die philosophischen Gedanken einer hoch entwickelten Zivilisation auf dem Mars im Vergleich zu den primitiven Menschen eingeht. Es ist ein vielschichtige, vielleicht ein wenig zu euphorische Auseinandersetzung mit dem auch heute noch lesenswerten Epos „Auf zwei Planeten“, die viel andeutet und gegen Ende zu wenig nachhaltig mit Argumenten unterlegt extrapoliert. Nebeneinander stehend zeigen sie aber den Einfluss des Werkes über einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren, der mit dem Aufstieg des Nationalsozialisten gänzlich schwinden sollte.

In drei Essays aus den Jahre 1967 und 1987, die Franz Rottensteiner für die Neuveröffentlichung in dieser Sammlung überarbeitet hat, wird die Bedeutung Kurd Laßwitzs für die deutsche Science Fiction kritisch reflektierend herausgearbeitet, wobei Dieter von Reeken ein wenig zu depressiv den Einfluss des Vaters der deutschen Science Fiction relativiert. Man kann in Kurd Lasswitz einen Vorgänger von Olaf Stapledon sehen, welcher wie der Gothaer der utopischen Literatur eine philosophisch emotionale intellektuelle Weitsicht geschenkt hat, die immer wieder von den technokratischen Pulpautoren – in Deutschland in erster Linie Hans Dominik - überdeckt worden ist. Sie ist aber niemals untergegangen und wird immer wieder von einer neuen Autorengeneration – siehe Stephen Baxter in England – aufgegriffen und als Fackel voran getragen extrapoliert. Die frühste Arbeit „Ordnungsliebend im Weltraum“ ursprünglich aus dem Jahre 1967 zeigt Herrn Rottensteiner noch als jungen wilden Kritiker, der mit Schlagwörtern wie „wertlos“ um sich wirft und dessen Fazit, dass Lasswitz ein biederer Schreiber gewesen ist, ordnungsliebend und gewissenhaft bis zur Pedanterie. Von Lasswitz Hauptwerk „Auf zwei Planeten“ ausgehend ist sich der teilweise überambitioniert bis selbstgefällig „arrogant“ argumentierende junge Rottensteiner seiner Meinung so sicher, dass er keinen Widerspruch duldet, ihn im Keim erstickt. Höchstens die Pulpgeschichten der Amerikaner, die Laßwitzs Arbeiten wie Hans Dominik mit seinen utopisch technischen Arbeiten überrollt haben, verdienen mehr Verachtung. Die modernen Märchen sind kitschig und allenfalls die technischen Ideen bei eindimensionalen Charakteren, deren Rollen aber – es klingt wie ein Widerspruch – in „Auf zwei Planeten“ gut angelegt worden sind. Natürlich sieht er einen kurzfristigen Einfluss, aber für den Analysten ist Lasswitz eher ein literarischer Einsiedler, der sich in der perfekt bürgerlichen Harmonie vor dem Ersten Weltkrieg entwickeln konnte und zumindest im metaphorischen Sinne auf den Schlachtfelder zwischen 1914 und 1918 als antiquiert wieder begraben worden ist. Eng verknüpft mit dieser überdurchschnittlich kritischen Auseinandersetzung mit dem biederen Schriftsteller Kurd Laßwitz ist der zweite Artikel aus dem Jahr 1987, in dem Franz Rottensteiner für „Bilder aus der Zukunft“ nur lobende Worte findet und insbesondere die vielen kleinen, nicht selten nur implizierten Ideen lobt. In beiden aufeinander aufbauenden, sich teilweise auch inhaltlich überlappenden Essays versucht der Autor nicht nur die Position Kurd Lasswitz im Rahmen der internationalen Science Fiction und seinen Einfluss auf Autoren bzw. Plagiatoren wie Hugo Gernsback zu eruieren, sondern das anfänglich übertrieben negative Bilder zu relativieren. Beide Artikel zeigen unabhängig von dieser nicht immer konsequenten und vor allem in „Ordnungsliebend im Weltraum“ kaum begründeten stellenweise polemischen Kritik Rottensteiners Fachwissen in Bezug auf die frühe phantastische Literatur. Die zahlreichen Querverweise laden förmlich zum Suchen und Lesen verschiedene Romane und Kurzgeschichten ein, welche Kurd Lasswitz aktiv beeinflusst hat. Auf der anderen Seite sollte der Gothaer zu den wenigen phantastischen Autoren gehören, die als Wurzel einer zarten Pflanze gesehen werden müssen und die weniger von anderen Schriftstellern beeinflusst worden sind. Das es um den emotionalen Propheten im Land der Ingenieure und Großkapitalisten nach einer kurzen Blütezeit in erster Linie vor dem Ersten Weltkrieg eher still geworden ist, zeigt die abschließende Arbeit „Kurd Lasswitz und die deutsche Science Fiction“. Überrollt von der Flut utopisch technischer Romane ausgehend von den Wirren der Weimarer Republik mit Hans Dominik als Domator zur Eroberung des Alls durch die Raketenjünger bis zur Gegenwart der achtziger Jahre sieht Franz Rottensteiner keinen Epigonen. Außen vorgelassen hat er das Ehepaar Braun, deren moderne Märchen vielleicht am ehesten dem Geist Kurd Lasswitz entsprochen haben. Der Name Kurd Lasswitz ist heute eher als Literaturpreis denn als Autor bekannt ist. Alleine „Auf zwei Planeten“ und in einem Abstand folgend „Homchen“ sind mehrfach nachgedruckt worden. Aber das rechtfertigt nicht Rottensteiners abfällige Bemerkungen über die mit dem „Kurd Lasswitz“ Preis ausgezeichneten Romane und Kurzgeschichten, zumal sich der Autor in Unkenntnis des Gothaers Lehrers auch polemisch kein Urteil erlauben darf. Aber ist Kurd Lasswitz ein einzelnes Phänomen? Wie schon angesprochen interessieren sich die Leser seltener für einen Olaf Stapledon denn einen Edmond Hamilton oder E.E. Smith. Auch das später, eher philosophisch geprägte Werk eines H.G. Wells ist heute bis auf die wenigen misslungenen Adaptionen eher in Vergessenheit geraten. Nachgedruckt werden seine ersten wissenschaftlich utopischen Romane, wobei Wells ausgesprochen gut cineastisch zu adaptierende Arbeiten geschrieben hat. Der einzige Vorwurf, den man Kurd Lasswitz neben seiner deutschen Herkunft machen kann. Natürlich entspricht die Erforschung des Weltraums dem damaligen Zeitgeist, der sich bis auf die obskuren Kreise in den Großstädten im Zuge des technokratischen Fortschritts nach außen wandte. Das Schicksal teilen sich Kurd Lasswitz oder Olaf Stapledon. Wie der Autor aber in seinen anderen, sehr viel differenzieren Essays überzeugend herausgearbeitet hat, findet sich Kurd Laßwitzs Ideenreichtum und seine Phantasie in vielen anderen später entstandenen phantastischen Werken auf überraschende Art und Weise wieder, so dass es Zeit ist, sich vielleicht auch wieder auf den Quell zu besinnen.

 Zusammengefasst spricht der thematisch vielschichtige Band „Über Kurd Lasswitz“ in erster Linie Leser des Gothaer Autoren und Lehrers an, die sich mit der Zeit und dem Menschen auseinandersetzen wollen, der so viele phantasievolle, humoristische oder emotionale Texte in unterschiedlichen Genres vom Lustspiel bis zum großen kritischen Science Fiction Epos hinterlassen hat. Als Begleitband zur „Kollektion Lasswitz“ ist es allerdings eine elementare Bereicherung auch der gegenwärtig fortschreitenden literarischen Erforschung seines Werkes, da Notizen, Reden und Würdigungen von Zeitzeugen den Autoren dreidimensional und auch menschlich in seinem Alltag erscheinen lassen.  Die einleitend angesprochen mehr als achtzig sehr gut wiedergegebenen Fotos beleuchten dessen Zeit und Franz Rottensteiners ambivalente Essays schlagen die Brücke zumindest zu den achtziger Jahren, in denen bis auf „Auf zwei Planeten“ Kurd Lasswitz vollkommen zu Unrecht vergessen gewesen ist.   

Sammelband mit dem Tagebuch 1876–1883 (Erstveröffentlichung aus dem handschriftlichen Nachlass), vielen bisher unveröffentlichten Fotografien und anderen Abb., Literaturhinweisen und Beiträgen von Dieter von Reeken, Kurd Laßwitz, Carl Grunert, Max Kalbeck, Bertha von Suttner, Rudolf Laßwitz und Franz Rottensteiner. 193 Seiten, 81 Abb., Literaturhinweise
25,00 € — ISBN 978-3-940679-82-6

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