Wie in „Im Bann des Erlösers“ greift Thomas Tippner in „Die verlorenen Mädchen von London“ wieder auf den inzwischen beförderten Oberinspektor Ebenezer Pommery zurück. Die ersten beiden Bände dieser Reihe mit neuen Fällen bestanden aus Nachdrucken der Jugendbücher Dietmar Kueglers, in denen Edgwar Wallace mit seinen Romanen bei der Aufklärung der Verbrechen geholfen hat. Nicht selten konnte ein eher auf ein jugendliches Publikum zugeschnittener Inspektor Pommery sogar direkt aus den Büchern des Meisters zitieren, um den Täter während der Finals zu überführen.
Thomas Tippner hat eben diesen Ebenezer Pommery in der Zeit zurückversetzt. Sowohl „Im Banne des Erlösers“ als auch „Die verlorenen Mädchen von London“ spielen in der Zeit, in welcher Edgar Wallace seine Bestseller schrieb. Pommery ist nicht mehr nur ein Fan des Autoren, die beiden Männer sind befreundet. Zusätzlich ermittelt Wallace in “Die verlorenen Mädchen von London” nicht ganz uneigennützig nicht nur für einen neuen Roman, sondern auch in dem aktuellen Fall. Dabei kommt es auch zu einem interessanten Gespräch zwischen Wallace und Pommery, in welchem der Schriftsteller zugibt, aufgrund seiner enormen Produktion auf eine Art Karteikastensystem zurückzugreifen, aus welchem er mit ein wenig Inspiration durch die Wirklichkeit als Reporter für ein Klatschblatt seine Romane eher zusammenbaut als schreibt.
Zu Beginn des Buches wird aus der Themse die Leiche eines Mannes gefischt. In einem sehr teuren Schuh hat er einen Zettel versteckt, eine Tätowierung weist ihn als Mitglied der Flußrattenbande aus, die mit immer aggressiver werdenden Methoden ihren Einfluss gegenüber den etablierten Banden zu erweitern suchen.
Pommery wird auf ein seltsames Phänomen aufmerksam gemacht. Junge Mädchen kurz vor ihrem 18. Geburtstag werden von eher windigen Gestalten adoptiert und aus den Heimen geholt. Sie müssen zwar für ihre neuen Stiefeltern arbeiten, während bislang zumindest der Heimaufenthalt aus einer anonymen Quelle bezahlt worden ist. Pommery vermutet zusammen mit seiner Freundin Gloria keine Nächstenliebe hinter den Aktionen, zumal die Fäden bei einem neu reichen Mann zusammenlaufen, der erst vor kurzem aus Australien nach Großbritannien gekommen ist. Aus einem kleinen unbekannten Kaff, aus dem auch seine Nachbarn stammen- eine Frau und zwei junge Männer, die angeblich eine Variete Show in London etablieren wollen.
Wie bei einigen anderen Edgar Wallace Romanen dieser neuen Reihe wechseln sich Stärken und Schwächen ab. Der Autor Thomas Tippner versucht, die Persönlichkeit des Oberinspektor Pommery auch in Hinblick auf den mehrfach erwähnten Erlöserfall weiter zu entwickeln. Auf der privaten Ebene wird er ein wenig naiv charakterisiert. Das gipfelt in einem viel zu langen Epilog. Seine Verlobte Gloria greift mehr in die laufenden Ermittlungen ein. Parallel zu diesem Edgar Wallace Band hat Thomas Tippner im Blitz Verlag eine Sherlock Holmes Storysammlung “Ein Fall aus der Vergangenheit” publiziert, in welcher Mary Watson ebenfalls ein wenig mehr das Zepter in die Hand nimmt. Beide Frauen ermitteln auf eigene Faust und wirken abseits ihres Ehemannes durchaus resolut, entschlossen und furchtlos. Nur wenn die jeweils bessere Hälfte die Haustür von innen schließt, sind sie wieder die zahmen Stubentiger, mit denen man die Frauen dieser Epochen (spätes 19. und frühes 20. Jahrhundert) gerne in Verbindung bringt.
Dietmar Kuegler hat aus seinem Pommery eine Art Schatten Sherlock Holmes gemacht, der seine gemachten Beobachtungen nicht selbst analysiert, sondern auf Edgar Wallaces fiktiven Erfahrungsschatz zurückgreift. In Thomas Tippners Romanen folgt zwar der Oberinspektor einer Reihe von Spuren, die einzelnen Versatzstücke des Falls müssen gegen Ende aber auch ein wenig dem Zufall wie Informationen von außen geschuldet zusammenfallen.
Edgar Wallace ist vielleicht der am meisten bizarre Charakter dieser Sammlung. In erster Linie ist er ein Schreibtischtäter, der sich immer wieder in den Fall verwickeln lässt, aber kein wirkliches Interesse zeigt, über die entsprechende Kante metaphorisch zu schauen. Er scheint eher ein wenig schreckhaft zu sein und der Leser kann sich kaum vorstellen, dass diese Edgar Wallace Inkarnation auch als Sensationsreporter für ein Klatschblatt arbeitet. Auf der anderen Seite benötigt Pommery auch eine Art Doktor Watson, mit dem er stellvertretend für den Leser seine Informationen teilen kann. Das funktioniert lange Zeit ausgesprochen gut, anschließend verschiebt sich allerdings der Fokus ein wenig. Edgar Wallace tritt buchstäblich in den Hintergrund und wird nur während des Finals als sorgenvoller Freund benötigt.
Bei den anderen Nebenfiguren überzeugen noch die etwas naiven jungen Menschen aus Australien, über deren nicht soziales Zusammenleben - zwei Männer und eine junge Frau - sich das Viertel die Klatschmäuler zerreißt.
Bei den Ermittlungen zeigen sich die Zusammenhänge zwischen dem neureichen Australier und seinen Nachbarn zumindest den Lesern schneller als dem Ermittler. Wenn eine Gruppe von Menschen zu unterschiedlichen Zeiten aus dem gleichen gottverlassenen Ort in der australischen Wüste nach England reisen, muss es einen Zusammenhang geben. Erstaunlicher ist, das der arrogante Neureiche eine mögliche Verbindung zur eigenen Vergangenheit nicht schneller ahnt. Denn zumindest hinsichtlich seines Butlers mit einer ebenfalls kriminellen Vergangenheit ist er deutlich aufmerksamer. Außerdem lassen sich die jungen Menschen an ihrem Akzent schnell erkennen, auch Pommer fällt ohne Probleme auf, das sie aus wärmeren Gefilden kommen. Von der Akrobatik ganz zu schweigen. Zu Lange wird dieser kleine Teil des Buches auf eine Art Nachbarschaftsstreit reduziert.
Der Plot mit den jungen Mädchen kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag erinnert eher an eine Sherlock Holmes Geschichte denn den typischen Edgar Wallace Thriller. Zu Beginn mit Thomas Tippner ein wenig konstruieren, um den toten Mann in der Themse mit den verlorenen Mädchen in London in einen Zusammenhang zu bringen. Verloren muss der Leser auch eher metaphorisch sehen, denn die Mädchen befanden sich bis zu ihrer Adoption ja in nicht unbedingt hochklassigen, aber sich zumindest solide um die Erziehung kümmernden Kinderheimen. Ganz verloren waren sie also nicht.
Thomas Tippners Roman zeichnet sich positiv durch ein verhältnismäßig hohes Tempo aus. Die einzelnen Handlungsebenen sind anfänglich klar voneinander getrennt und fließen durch einen zweiten Mord sowohl aus Pommerys Sicht als auch für die Leser dann geschickt zusammen.
Der Autor nutzt Elemente fast schon aus dem Schauerroman mit dem rechtlich im Grunde herrenlosen Gasthaus direkt an der Themse, fügt aber auch mehr moderne Elemente wie die Reise mit dem Auto inklusive einer entsprechenden Panne ein. Das Finale ist zwar im Vergleich zum Epilog deutlich kürzer, packender, basiert aber teilweise auch auf dem Faktor Zufall. Der Leser ahnt vielleicht auch durch die breitere Erzählebene mit mehreren Handlungssträngen - Pommery/ Wallace und Gloria allein unterwegs - die Zusammenhänge eher als vor allem der ermittelnde Oberinspektor.
Im direkten Vergleich zwischen den beiden von Thomas Tippner für die neuen Fälle verfassten Arbeiten ist “Im Banne des Erlösers” die überzeugendere Hommage an Edgar Wallace und seine besondere Art zu schreiben. Dafür hat Thomas Tippner in “Die verlorenen Mädchen von London” einen besseren Zugriff auf die handelnden Protagonisten und erzählt deutlich beschwingter mit mehr Tempo seine Geschichte. Unabhängig voneinander bieten beide Romane eine solide Unterhaltung in den dieses Mal nicht einmal nebligen Straßen Londons an.
Band: 06, Kriminal-Roman
Seiten: 162 Taschenbuch
Exklusive Sammler-Ausgabe
Preis: 12,95 €