Ihr Körper, das Schiff

Yvonne Tunnat & Chris Witt (Hrsg).

Wolfgang Jeschke und Herbert W. Franke haben in unterschiedlichen Reihen vom „Kontinuum“ über den „Story Reader“ zu den Anthologien internationaler Science Fiction immer wieder Stories aus dem angloamerikanischen Raum den deutschen Lesern präsentiert.  Sie waren nicht wie „The Magazine of Fantasy & Science Fiction“ oder „Isaac Asimov´s SF Magazine“ sowie in den achtziger Jahren H.J. Alpers „Analog“ Zusammenstellungen auf eine Magazinreihe fokussiert, sondern griffen auf  ein breites Spektrum von Quellen zurück.

Diese Tradition ist zum Erliegen gekommen. Neben nur wenigen Storysammlungen eher populärer Autoren, die im Rahmen eines Gesamtwerks ins Deutsche übersetzt werden, finden sich einzelne Übersetzungen in verschiedenen Magazinen. Sie stellen aber keinen Schwerpunkt da.

Mit „Ihr Körper, das Schiff“ wollen Yvonne Tunnat und Chris Witt diese Publikationsignoranz durchbrechen und präsentieren die aus ihrer Sicht besten, teilweise auch thematisch miteinander verbundenen Kurzgeschichten aus dem englischsprachigen Raum. Ganz bewusst umschiffen die beiden Herausgeberin dabei die Auswahl der immer noch in den USA veröffentlichten „The Best Science Fiction of the Year“ Bände, die auch unter Publikationsverzögerungen leiden. Neil Clarke stellt jedes Jahr einen der Bände zusammen. Neil Clarke ist als Herausgeber von „Clarkesworld“ auch der Mann, der mit fünf Geschichten aus seinem Magazin am meisten in „Ihr Körper, das Schiff“ vertreten ist.  Kein Zufall, denn die Art von Storys, welche er seit zwanzig Jahren in „Clarkesworld“ veröffentlicht, sind nicht nur qualitativ überzeugend, sie zeigen auch den thematischen Weg vor, den die beiden Herausgeberinnen gehen wollen. Auch wenn sie oberflächlich den Inhalt einiger der hier gesammelten Geschichten streifen, lohnt es sich, mit dem Nachwort anzufangen, um ein Gefühl für den Selektionsprozess zu erhalten.  

 In Angelia Lius „Pinocchio Photography” Welt ist die treibende Idee eine neue Technik, in welcher die Verstorbenen für eine gewisse Zeit wiederbelebt werden können. Es ist möglich, auf einer Art Spezialfilm Aufnahmen mit den Toten zu machen. Die Protagonistin muss dabei mit dem Zwiespalt innerhalb ihrer Familie leben. Die Mutter lehnt die ganze Technik und vor allem die dahinterstehende Idee ab, der Vater ist dagegen offener und interessiert sich für die Arbeiten. Natürlich kann ein aufmerksamer Leser ahnen, in welche Richtung sich die Geschichte entwickelt. Aber neben den dreidimensionalen, sehr zugänglichen Charakteren ist es das zugrundeliegende Thema, einen unwiederbringlichen Augenblick für eine subjektive Ewigkeit festzuhalten, welche ohne Kitsch in einer sachlichen, sehr überzeugenden Art und Weise präsentiert wird.  

Kelsea Yus Titel „In Erinnerungen ertrinken wir“  impliziert eher Tiefe als Spannung, aber Rosalie Chin ist als Ozeanographin nur die treibende Kraft hinter einer spannenden Geschichte. Sie entdeckt eine neue Pflanzenart, die beim Essen individuelle Erinnerungen in den Menschen weckt. Die Menschen sind schon seit einiger Zeit in der Station unter Wasser eingeschlossen und diese Pflanzen könnten ihr Überleben sichern. Hinsichtlich des Hintergrunds der Geschichte und der globalen Katastrophe, welche auch Rosalie von ihrem Verlobten trennte,  bleibt die Autorin frustrierend vage, aber die Kombination aus einer ungewöhnlichen Nahrung – es werden meistens traurige Erinnerungen geweckt, die ein Gefühl der Leere in den Figuren hinterlassen – und zwei sehr interessanten, dreidimensionalen Protagonisten an Bord gleichen den schwach entwickelten Hintergrund der Geschichte zufriedenstellend aus.

 Auston Habershaws „Brutparitismus“ ist eine vielschichtige Geschichte, deren Tiefe sich erst im Laufe der finalen Konfrontation entfaltet. Dabei nutzt der Autor als Ausgangspunkt Klischees des Genres. Ein Auftragskiller soll einen Tyrannen töten. Eine Welt am Rande des Krieges. Aber aus diesen Ideen macht der Autor dank des lakonischen Erzähltons des besonderen Auftragkillers sehr viel. So übernimmt er als Gestaltwandler – auch keine neue Idee des Genres – quasi den Körper des in eine Falle gelockten und getöteten Sohns, um so auch unter der Gefahr, selbst getötet zu werden, die restliche Familie und das eigentliche Ziel herauszulocken.

Die Welt steht am Rand eines neuen Kriegs. Die Uhren laufen rückwärts. Aber auf dieser Welt herrschen in Zyklen immer vier Jahre Krieg, vier Jahre Ruhe und dann vier Jahre Erholung. Jeder kann sich darauf einstellen, auch wenn sie vor den Zerstörungen nicht sicher sind. Der Hintergrund hätte vielleicht noch ein bisschen besser ausgebaut werden können, aber die Kurzgeschichte bietet nicht so viel Raum.

Die finale Konfrontation ist dank Nanotechnik weniger dramatisch als gedacht. Auston Habershaw macht deutlich, dass die geplante Länge der jeweiligen Kriege unabhängig von ihrer Zerstörungskraft andere, neue Herausforderungen darstellen und ein Profikiller passt sich nicht nur seiner Umgebung an, er nutzt die neuen Möglichkeiten pragmatisch.

Auch wenn es in dieser Geschichte auf den ersten Blick keine Helden gibt, stimmt das so nicht. Wie im guten alten Hollywood können auch böse Menschen manchmal etwas Gutes tun. Sie werden dadurch nicht zu Engeln oder Heroen, aber wie sagt der Ich- Erzähler, es kommt immer auf die Ziele darauf an.   

Viele der hier präsentierten Geschichten konzentrieren sich auf familiäre Gemeinschaften, auf Erinnerungen. Nicht unbedingt immer die klassischen Definition von Familie, aber besonderen menschlichen und teilweise um nicht menschliche Wesen erweiterte Gemeinschaften, manchmal auch in unwirtlichen Gegenden.

 „Ich werde Dein Spiegel sein“ von Rebecca Schneider eröffnet auf eine ungewöhnliche Art und Weise den Reigen. Die Kolonisten auf einem Planeten werden von einem überwiegend tödlichen Virus befallen. Mare ist eine Androiden, welche als Krankenschwester und immer mehr als Seelsorgerin agiert. Da sie wenig Schlaf benötigt, versucht sie die ärztliches Crews zu entlasten. Die Versorgung, die Hilfe für die Menschen wird allerdings für sie auch zu einer Sucht, einer fortwährenden Aufgabe, aus der sie im übertragenen Sinne schlecht entkommen kann. Vor allem auch, als schließlich ein Gegenmittel gefunden wird.

 In einer ruhigen, aber doch dynamischen Art beschreibt die Autorin eine doppelte Reise. Äußerlich die Bedrohung durch das Virus, die Hilflosigkeit Mares und schließlich auch das Hinterfragen ihrer Tätigkeit. Auf der anderen Seite entwickelt sie sich als Persönlichkeit weiter; sie macht neue Erfahrungen und wird mit den entsprechenden Einschränkungen zu einem vollwertigen Menschen. Vielleicht sogar zu mehr als einem Menschen.

 Ein Problem ist der eher spärlich, pragmatisch entwickelte Hintergrund der Geschichte. Rebecca Schneider bietet nur die notwendigsten Erklärungen an, so dass Mares Entwicklung manchmal ein wenig zu stringent, zu sehr auf den Punkt genau konstruiert erscheint. Aber neben den humanitären Aspekten – ein allgegenwärtiges Thema auch auf der Erde – ist es der Versuch, die Barrieren vor allem im Kopf auf beiden Seiten zu überwinden.

Auch Everdeen Masons „Scarlet“ ist eine seltsame Liebesgeschichte, in welcher die künstliche Intelligenz die Menschen studiert. Oder besser den Menschen, der ihn unter Mühen einen ersten Körper erschafft, nachdem Scarlet gelernt hat, Emotionen zu lesen. Es ist eine gegenseitige Abhängigkeit, denn ihr Schöpfer versucht – auch wenn er es leugnet – sich die perfekte und im Grunde auch willige Frau zu erschaffen, während Scarlet versucht, mit ihren neuen Emotionen klar zu kommen und für ihren Herren perfekt zu sein. Im letzten Aspekt versteckt sich die bitterböse Pointe dieser Geschichte. Denn künstliche Intelligenzen sehen vieles deutlich rationaler als er emotional vorbelastete Mensch.

 Die Autorin baut minutiös diese seltsame Liebesgeschichte auf. Die Abhängigkeiten werden immer deutlicher, auch wenn die Umwelt des wirklich naiv agierenden Forscher warnt. Als Schwäche könnte ein aufmerksamer Leser diese klassische One-Man- Show ansehen. Auch wenn es sich anscheinend um einen Forschungsauftrag handelt, ist es erstaunlich, was der Mann alles in seinem Laboratorium herstellen kann.  

Auf den ersten Blick ist J.A.W. McCarthys Kurzgeschichte „Sieh es als Chance“ absurd. Die als Single lebende Protagonistin erhält einen künstlichen Bruder. Er ist aus den genetischen Codes der Eltern, aber auch ihren eigenen Erbanlagen geklont worden und hat nur eine Lebensdauer von dreißig Tagen, wobei sich kurz vor dem Ende der körperliche Verfall abzeichnet. Die Eltern schicken als Überraschung den Bruder zu ihrer Tochter, damit sie lernt, im Leben Verantwortung zu übernehmen. Im Gegensatz zum Superspielzeug, das in Brian W. Aldiss Geschichte einen ganzen Sommer hält, ist die Halbwertszeit deutlich kürzer. Ihr kleiner künstlicher Bruder akzeptiert das eher als die große Schwester. Die Kennenlernphase durchläuft die üblichen Probleme von zwei unterschiedlichen Menschen, die plötzlich zusammen leben müssen. Der Autor greift auf pointierte Dialoge zurück und lässt das Geschehen lustiger erscheinen als es vielleicht ist. Das Ende ist erstaunlich konsequent und pragmatisch. Es ist eine schwierige, aber auch bewusste Entscheidung. Es gibt keine „Deus Ex Machina“ Lösung; kein Wundermittel, welches das künstliche Leben verlängert. Sicherlich ist die Protagonistin nach dieser Begegnung ein wenig Erwachsener, Verantwortungsvoller, aber vor allem einsamer.

 Während die beiden Geschichten sich vor allem auf Bindungen konzentriert, zeigt „Die Leiden des neuen Zeitalters“ das Gegenteil. In einer Welt, in welcher für eine kleine Gruppe das Altern angehalten werden kann, ist dieser relativ Unsterbliche im Grunde der einsamste Mensch unter seinen Artgenossen. Das Altern kann im Gegensatz zum geistigen Verfall gestoppt werden. Daher wählt Katherine Ewell für ihre Geschichte keinen stringent entwickelten Plot, sondern versucht den geistigen Verfall durch den Rückgriff auf Fragmente, auf Gedankensplitter aus unterschiedlichen Lebensphasen der alten Protagonisten darzustellen. Das erfordert Geduld vom Leser, es aber aufgrund der zugrunde liegenden Idee auch opportun. Diese seltsame Widerspruch aus körperlichen Wohlbefinden und geistigem Verfall ist eine neue Variante des Themas relative Unsterblichkeit. Wie bei fast allen anderen Storys dieser Sammlung geht es weniger um harte Fakten, wissenschaftlichen Entdeckungen, sondern das zwischenmenschliche Element. Für den Leser ist es in dieser Geschichte weniger greifbar als in den stringenten Storys wie „Ich werde Dein Spiegel sein“ oder „Sieh es als Chance“, bei denen man sogar die Titel gegenseitig tauschen könnte und sie würden immer noch perfekt funktionieren. Der Leser hat Probleme, einen emotionalen Bezug zur Protagonisten herzustellen, aber das macht die Story auch so faszinierend, verstörend und genau wie die anderen Texte auf einer persönlichen Ebene auch zeitlos – das Wortspiel ist beabsichtigt – wie auch brandaktuell.

 „In den Tagen danach“ von Frank Ward ist ein Meisterwerk. Es treibt die Idee von Unsterblichkeit auf seine zynische und gleichzeitig optimistische Spitze. Eine Frau reist nach Louisville auf einer besonderen Mission. Ein seltsames Phänomen – anders kann man es nicht definieren – hat eine verschwindend kleine Gruppe von Menschen unsterblich gemacht. Sie altern nicht, ihr Körper verändert sich nicht. Alles ist eingefroren. Von einem Augenblick zum Nächsten. Meisterlich offenbart Frank Ward die Folgen dieses Fluchs. Die betroffenen werden von den Mitmenschen isoliert, bedroht. Und dann gibt es noch die Verbindung zwischen den Unsterblichen und den Sterblichen, nicht selten innerhalb einer Familie und vor allem mit sehr unterschiedlichen Auswirkungen. Auch wenn die Grundidee der Primus Inter Pares Gruppe auf den ersten Blick nicht neu erscheint, ist es die Pointe, welche die Story auszeichnet.  Noch heftiger ist Michael Teasdales „Frank Peterson kommt nach Hause“. In dieser Zukunft speichern die Menschen ihre Bewusstsein. Frank Peterson stirbt, sein Bewusstsein wird in einen neuen, leeren Körper übertragen. Er kehrt zu seiner schockierten Familie zurück. Es ist aber nicht mehr der gleiche Frank Peterson. Das wissen die Familienmitglieder aber nicht. In dieser kurzen, pointierten, aber leider auch thematisch ausgesprochen aktuellen Geschichte entblättert sich ein doppeltes Verbrechen vor den Augen der staunenden Leser, aber auch dem neuen Frank Peterson. Ein kraftvolles Ende, das ein wenig Optimismus verstreut, schließt diese intensive Kurzgeschichte ab.  

 Auch „Erinnerungen an verlorene Erinnerungen“ von Mahmud El Sayed ist eine wunderbare Geschichte, die ein klassisches Science Fiction Motiv – Außerirdische besetzen die Erde – zu einer emotionalen Familientragödie macht. Alle Menschen müssen an die Außerirdischen eine Erinnerungssteuer bezahlen. Ihnen werden Erinnerungen entnommen, die allerdings von einem betroffenen Gegenstand begleitet werden müssen. Inzwischen liegen Milliarden dieser Erinnerungsstücke unter den von den Fremden gebauten Domartigen Hallen. Für diese Steuer wurden extra ganze Behörden eingerichtet, besetzt mit Menschen. Mehr hat man von den Außerirdischen bislang nicht gesehen. Niemand weiß, wofür sie diese Erinnerungen benötigen.

 Ahmed will mittels eines besonderen Familienerbstücks – eine Armbanduhr, welche schon vom Großvater an den Vater und zu dessen Lebzeiten noch an ihn weitergegeben worden ist- eine große Erinnerungssteuer bezahlen, weil er mit seinem an Demenz erkrankten Vater nach Ägypten reisen will, damit dieser in seiner Heimat sterben kann.

 Mahmud El Sayed setzt sich nicht nur mit dem klassischen Thema der Familienbande, des Zusammenhalts in schwersten Zeiten und vor allem dem Übernehmen von Verantwortung für Menschen auseinander, die durch ihre Krankheit aus dem Leben „gefallen“ sind. Dieser Handlungsstrang wird gut entwickelt und Ahmed zweifelt keine Sekunde trotz des großen Opfers an der Richtigkeit seiner Vorgehensweise.

Vielmehr geht es um die Bedeutung von Erinnerungen und vor allem den Verlust, den der Betroffene erst indirekt spürt. So hat Ahmed einmal die Erinnerung an eine Band eingetauscht. Als er deren Musik wieder hört und von Freunden auf die Bedeutung des Liedes aufmerksam gemacht wird, ist es ihm gleichgültig. Ein schmerzlicher Verlust, der auch nicht mehr rekonstruiert werden kann. Selbst Zettel und Hinweise sind nur recycelte Impressionen, aber niemals die erste Ebene.

 Eine besondere Note erhält die Geschichte durch die doppelte Bedeutung von Erinnerungen. Ahmed muss seine Erinnerungen gezielt verkaufen, sein Vater verliert nach und nach seine Erinnerungen durch seine Demenz. Das er dadurch für die Außerirdischen wertlos wird, aber trotzdem steuerpflichtig ist, erscheint als weitere zynische Wendung dieser wunderbaren Geschichte, die vor allem durch die dreidimensionalen Protagonisten, aber auch den getragenen und trotzdem emotional ansprechenden Stil seines Erzählers überzeugt. Beginnend mit dem wunderbaren Titel „Erinnerungen an verlorene Erinnerungen“ ist Mahmud El Sayed Kurzgeschichte eine der vielen überdurchschnittlichen Geschichten dieser Sammlung.

 Natasha Kings „Plötzliches Verhängnis“ überzeugt trotz einer nicht unbedingt neuen Grundidee. Implantate ermöglichen es den Menschen, Wissen zu teilen. Dabei kann ein Mensch mittels dieser Technik einem anderen Menschen gegen dessen Willen nicht nur Wissen vermitteln oder nehmen, sondern auch dessen Erinnerungen stehlen.  Am Ende stirbt der Bestohlene. Mehr und mehr bricht die Gesellschaft aufgrund dieser Erinnerungsdiebstähle zusammen. Der Prozess lässt sich schwer von den Behörden stoppen.  

Der Plot handelt von einem jungen Mann, dessen Bewusstsein nicht nur gestohlen wird, sondern es lebt im Geist des Diebes weiter.   Das führt zu einer Kettenreaktion. Auch wenn sich der Plot absurd anhört, hat die Autorin die einzelnen Szenarien im Rahmen ihrer eigenen Prämissen zufriedenstellend und überzeugend entwickelt. Sie schreibt zwar immer ein wenig am Rande des melodramatischen Nervenzusammenbruchs, aber glaubhaft. Die Beziehung zwischen dem ersten Opfer und dem abschließenden Dieb wirkt allerdings konstruiert und reiht sich in die vom Leser zu akzeptierende Ausgangsprämisse ein. Ohne eine gewisse Akzeptanz der Grundidee kann die Geschichte auch lächerlich erscheinen.

Die Titelgeschichte „Ihr Körper, das Schiff“ von S.K. Abraham spielt auf einem Generationenraumschiff, dessen Besatzung in verschiedene Stämme aufgeteilt worden ist. Die Navigatorengilde wendet sich gegen die rigiden Regeln und will sich auf dem nächsten bewohnbaren Planeten niederlassen. Das stört andere Stämme, welche die zu ihren Gunsten ausgelegte Ordnung an Bord des Raumschiffs erhalten möchten.

 Auch wenn die Handlungen der Protagonisten nicht immer nachvollziehbar sind, überzeugt die besondere Gestaltung der einzelnen Stämme und ihre Interaktion. Wahrscheinlich wäre eine Novelle besser, um die einzelnen Konflikte besser auszuarbeiten und einzelne hektische Perspektivwechsel zu verändern. Aber S.K. Abraham gelingt es, einem alten Thema zumindest im Inneren des Raumschiffs neues Leben einzuhauchen.

Kel Colemans „In der Angelegenheit Homo Sapiens“ ist eine seltsame kurze Geschichte. Zwei Roboter/ vielleicht auch künstliche Intelligenzen diskutieren während der Feldforschung darüber, den ausgestorbenen Homo Sapiens wieder zu beleben. Die Diskussionen sind pointiert geschrieben, aber die Miniatur wirkt aus dem Zusammenhang gerissen und nach der Lektüre blieben zu viele Fragen offen.

Auch Jana Bianchis „Dein kleines Licht“ beschreibt das Schicksal des einzigen Überlebenden auf einem im All treibenden Generationenraumschiff. Sie versteckt sich in einem Teil des Raumschiffs, wo auch ein fremdes an Bord genommenes Wesen lebt. Außerdem ist sie schwanger und die Geburt steht unmittelbar bevor. Die Rettung besteht aus einer kleinen Chance an Bord eines der Beiboote. Allerdings erkennt sie, dass das außerirdische Wesen anscheinend intelligent ist.

 Eine sentimentale, immer nahe an den Kitsch gebaute Geschichte mit einem eher pragmatisch oberflächlich entwickelten Hintergrund und einer dreidimensionalen außerirdischen Figur, die sympathischer als die menschliche Protagonistin erscheint. Das Ende wirkt leider sehr stark konstruiert und unglaubwürdig.

 Das Beste kommt zum Schluss. Naomi Kritzer hat für „Das Jahr ohne Sonnenschein“ sowohl den HUGO wie auch den Nebula Award verliehen bekommen. Es ist eine zutiefst optimistische Post Doomsday Geschichte, die von den dreidimensionalen Charakteren lebt. Kritisch gesprochen wirkt vieles im Angesichts der Katastrophe immer noch zu positiv und im Vergleich zu vielen anderen Post Doomsday Geschichten vermisst der Leser vielleicht eine wirkliche Bedrohung von „außen“. Als Naomi Kritzer auf dieses Thema kommt, erscheint der Angriff fast naiv und dumm. Immerhin herrschte zu diesem Zeitpunkt schon seit vielen Monaten Ausnahmezustand. Aber diese positive Grundeinstellung; der Versuch, der Katastrophe zwar nicht Herr zu werfen, aber zumindest die Kräfte zu bündeln, ist ein urtypisch amerikanisches Element aus der Frontierzeit, das unter Präsidenten wie Trump vollkommen verloren gegangen ist. Rasse und Herkunft spielen keine Rolle mehr.

 Durch eine natürliche Apokalypse verdunkelt sich die Sonne. Die bestehende Zivilisation bricht zusammen. Strom gibt es nur noch zeitweilig, Benzin ist nicht mehr vorhanden und auch die Lebensmittelversorgung ist höchstens noch zufallsbedingt. In einer kleinen Siedlung beginnen sich die Nachbarn zu organisieren. Es fängt mit einer lokalen Whats App Gruppe an. Später kommt es zu Befragungen; zu Tauschbörsen und echter Nachbarschaftshilfe. Vor allem als die Menschen erfahren, dass eine ältere Frau aufgrund ihrer Krankheit auf einen ständig laufenden Sauerstoffgenerator angewiesen ist. Die Nachbarschaftshilfe verläuft manchmal am Rande des amerikanischen Kinokitsches, aber trotzdem funktioniert die Geschichte. Nicht weil sie anders oder besonders originell mit der namenlosen Katastrophe umgeht. Sondern weil sich die Autorin auf das Wesentliche konzentriert.

 Natürlich ist manches an dieser Robinsonade einfach konstruiert. Zu oft fallen die notwendigen Puzzleteile zusammen. Zu pragmatisch und selbstlos ist die Hilfe. Vor allem muss ja nicht nur alles organisiert werden, es muss entweder vorhanden sein oder kann rechtzeitig eingetauscht werden. Diese Schwäche übertüncht die Autorin mit ihrem grenzenlosen, aber nicht naiven Optimismus. Andere Gemeinden drohen Plünderer mit Lynchjustiz. So weit kommt es nicht. Der einzige Überfall verläuft relativ harmlos, auch wenn die Eltern durch eine kräftige Zahlung ihre jugendlichen Täter auslösen müssen. Gerechtigkeit muss sein. 

 Jeder Tag ist eine neue Herausforderung. Das macht die Autorin auch deutlich, aber wer sich diesen Herausforderungen nicht stellt, hat schon von Beginn an verloren. Es ist dieser Tonfall, der „Ein Jahr ohne Sonnenschein“ aus der Masse heraushebt. Es sind diese kleinen Momente, welche deutlich machen, dass die Preise verdient sind. Aber vor allem sind es die Charaktere mit ihren inneren Hemmungen, aber auch ihren Hoffnungen, den kleinen Gestern, welche dem Leser im Gedächtnis bleiben und die nicht nur für diese längere Kurzgeschichte, sondern Naomi Kritzers Gesamtwerk so bedeutend sind.

 Jelena Gajic hat für die Sammlung ein schönes, stimmungsvolles Cover gemalt. Ob es sich wirklich um die besten neuen und internationalen Science Fiction Kurzgeschichten handelt, lässt sich sicher trefflich streiten. Aber die beiden Herausgeberinnen haben sich bemüht, ein sehr breites Themenspektrum mit teilweise ungewöhnlicher Präsentation durch die mutigen Autoren und vor allem auch mit neuen Namen zu präsentieren. Jede der hier gesammelten Storys weist ungewöhnliche Stärken und nur wenige Schwächen auf. Viele Storys packen den Leser und halten ihn lange nach Ende der Lektüre noch in ihrem Bann. Die meisten Texte stammen eben nicht von den großen drei, sondern den Epigonen wie „Clarkesworld“ oder „Uncanny Magazine“, die in den letzten Jahren durch die bemerkenswerte Arbeit ihrer Herausgeber neue und alt bekannte Namen angezogen haben. Die qualitativ die manchmal ein wenig eingerosteten Magazine wie „Isaac Asimov´s“, „Analog“ und „The Magazine of Fantasy & Science Fiction“ überholt haben. Weil sie mutig die Grenzen des Genres ausloten und alt bekannte Themen aus neuen, frischen Perspektiven präsentieren. Das wäre schon die eine oder andere Übersetzung wert. 

 Aber vor allem bietet die Anthologie zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder die Möglichkeit, internationale Kurzgeschichten in der Breite und nicht als einzelne Beigabe zu Magazinen mit überwiegend deutschen Autoren zu lesen. Alleine deswegen ist „Ihr Körper, das Schiff“ eine wichtige Anthologie, der hoffentlich in den nächsten Jahren noch weitere Bände folgen werden. 

 

Ihr Körper, das Schiff: Die besten internationalen Science-Fiction-Geschichten

  • Herausgeber ‏ : ‎ A7L Thrilling Books Limited (Nova MD)
  • Erscheinungstermin ‏ : ‎ 30. Juli 2025
  • Auflage ‏ : ‎ Erstauflage
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe ‏ : ‎ 316 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3690284570
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3690284578