Film Freak

Christopher Fowler

Mit “Paperboy” beschrieb Christopher Fowler seine Jugend als Einzelkind, isoliert und gefangen in der Welt der Science Fiction Literatur und den Pulps. Vielen Lesern vor allem seiner phantastischen Romane werden diese Prämissen bekannt vorgekommen sein. Es ist ein realistisches, aber trotzdem humorvoll geschriebenes Portrait der sechziger Jahre. Mit “Film Freak“ hat Christopher Fowler noch stärker als in dem ersten Buch nicht nur seine eigene Biographie weiter zu Papier gebracht und nicht auf Celluloid gebrannt, sondern präsentiert ein Portrait des Londons der späten sechziger bis in die neunziger Jahre sowie einen Abriss des britischen Kinos im Grunde beginnend in den fünfziger Jahren und endend mit einer Art Semi Renaissance durch multiglobale Produktionen, in denen nicht immer der britische Geist auf den ersten Blick zu erkennen ist, aber zumindest einige Briten mit gearbeitet haben.

Wie in „Paperboy“ ist es schwer, die richtige Balance zwischen den persönlichen Belangen und Erfahrungen sowie den beruflichen Erfolgen oder Misserfolgen sowie der liebe zu London und seinen heute nicht mehr in dieser Form vorhandenen Kinos zu finden. Das Buch ist eine Zeitkapsel, die viel Ähnlichkeit zum amerikanischen Pendant „Grindhouse“ Buch hat. In beiden Büchern beschreiben absolute Filmfreaks ihre Erlebnisse in den gigantischen Palästen, die ihre besten Zeiten hinter sich haben. Und wenn Christopher Fowler davon spricht, dass es angenehmer gewesen ist, in einem großen Kinosaal als einem viel zu kleinen Wohnzimmer in einer überteuerten Flat in London zu sitzen, dann glaubt der Leser es schon. Es lohnt sich auch, das Buch mit den Filmen zu beginnen, denn die Vermarktung von Kinofilmen („Wir machen Trailer“) ist schließlich zu Fowlers ersten freischaffenden Beruf geworden. Fowler konzentriert sich auf britische Produktionen, nicht selten in einem engeren Zusammenhang mit der Dominanz des amerikanischen Kinos, aber britisch soll es sein. Seine Bemerkungen sind kurzweilig zu lesen und stellenweise doppeldeutig pointiert. Dabei rechnet er mit Hammers kontinuierlichem Recycling genauso ab wie er den Einfluss von „The Witchfinder General“ oder „The Wicker Man“ herausarbeitet.- Polanskis „Repulsion“ ist für ihn genauso ein Kommentar über den Zustand von London wie Ken Russels Streifen mehr und mehr aus seiner Sicht unerträglich geworden sind. Die „Carry on“ Komödien werden gelobt wie kritisiert. Alec Guiness ist der Held der fünfziger Jahre gewesen, während Pete Walker mit seinen in den Hinterhöfen gedrehten Horrorstreifen eine neue Sichtweise nicht nur Christopher Fowler schenkte. Es finden sich verschiedene Tabellen, die auf den ersten Blick den Lesefluss hemmen. Das beginnt bei den wichtigsten Unterschieden zwischen amerikanischen Filmen und ihren britischen Pendants, wobei der subversive wie dunkle britische Humor eine Rolle spielt. An einer anderen Stelle findet sich eine Auflistung von wichtigen britischen Produktionen nach ihren Drehorten. Irgendwo mitten drin die vielleicht eindrucksvollsten, wenn auch nicht unbedingt besten britischen Filmmomente. Fowler ist davon unwahrscheinlich offenherzig und ehrlich, aber auch süchtig. Der Drang, immer wieder Exploitation vor allem mit seinem langjährigen Freund und Geschäftspartner Jim Sturgeon anzuschauen, wird fast zu einer Sucht. Die Filme ersetzen anscheinend das Privatleben, denn nur zwischen den Zeilen und mit einem kleinen Exkurs hinsichtlich einer echten „Freundschaft“ lässt sich vielleicht erkennen, dass Fowler schwul ist. Ein Coming Out ist nicht unbedingt nötig. Immerhin hat Fowler die wilden siebziger Jahren mit dem Zeitalter der Disco – er hat zusammen mit Jim auch einen Nachtclub betrieben – gut überlebt, aber in diesem Punkt bleibt der Brite absichtlich vage und verschleiert vielleicht einige Punkte. Es spricht für einen gewieften Reklameprofi, dass er irgendwie das Ziel auf Umwege erreicht. Neben dem passiven Konsum von Filmen ist die Etablierung seiner Firma ein ergänzender Aspekt. Beginnend als Reklameautor – arbeitslose und hungernde Drehbuchautoren gab es wie Sand am Meer im darbenden britischen Filmdschungel der wenigen die Produktionsfirmen beheimateten Straßen in London – ist er nicht nur mit einigen wichtigen Filmpersönlichkeiten zusammengetroffen und hat mit ihnen gearbeitet, er kann ein authentisches Bild dieser Szene zeichnen, in der es immer wieder um Schein statt um Sein geht. Fowlers so bodenständige und anscheinend wenig heuchlerische Art öffnete ihm mehr Türen als der Boulevardpresse in einer Zeit, in der es noch nicht die Selbstbeweihräucherung auf Twitter oder Facebook gegeben hat. Stars spielen vor allem im britischen Teil des Buches keine echte Rolle, denn Fowler ist vor allem für das Marketing von Filmen zuständig. Auch hier gibt es natürlich einen bizarren wie selbstironischen „Kasten“ mit Streifen, für die sie die Reklame gemacht haben. Zyniker könnten davon sprechen, dass bei einer derartigen Reklame es kein Wunder ist, das die britische Filmindustrie ausgestorben zu sein scheint.

Fowler führt die einzelnen Aspekte – die Liebe zum Kino, die spätere Arbeit bei der Vermarktung von Streifen und schließlich das wilde London mit dem dunklen Herzen Soho in seiner Mitte – im Verlaufe der Lektüre geschickt zusammen. Anfänglich verzichtet er grundlegend auf eine rein chronologische Erzählung. Zwar beginnt der Roman mit seinem Auszug aus dem so faszinierend durchschnittlichen wie langweiligen Elternhaus in Richtung London mit wenigen Pfund in der Tasche, aber anschließend rast er quasi vor allem durch die cineastischen Jahrzehnte, in dem er den Einfluss des britischen Films auf sich persönlich in einem starken Kontrast zu dessen allgemeiner Ausstrahlung setzt. Erst Radio, dann Fernsehen und Kino als eine Art Notfallplan. In umgekehrter Reihenfolge spricht er von den vielen eher unbekannten britischen Schauspielern, für die nach fehlenden Kinoproduktionen, den wenigen erfolgreichen Theaterstücken oder gar Fernsehauftritten vor allem bei der BBC die Reklame der einzige meistens schwarz verdiente Broterwerb darstellte. Auch wenn der Ton humorig ist, zeichnet der Brite auch teilweise ein sehr zynisches Portrait eines Gewerbes, das einer Art Prostitution gleichkommt. Immer von außen beginnend mit seinen kleinen Reklamefilmen kommend sieht sich Fowler als eine seltene Spezies, die in Form des britischen Understatements mit dem neuartigen unabhängigen Vermarkten von Filmen auch einen kleinen Beitrag zum Erfolg des Kinos beigesteuert hat. Dabei sind einige seiner „Erfolge“ wie beim Film mit dem grünen Ei auf dem Plakat bemerkenswert.  Hinzu kommen später die Werbebeiträge inklusiv der eine Stunde dauernden Specials zu den James Bond Filmen. Interessant ist, dass neben dem Reinfall in Cannes vor allem ein Ansatz von Respektabilität der Firma zum Erfolg verholfen hat. Als sie die ganz schlechten Produktionen hinsichtlich ihrer Vermarktungsqualität ablehnten, kamen die neuen Klienten. Der starke Aufstieg der Werbefirma – über seine immer weiter reichenden schriftstellerischen Aktivitäten schreibt Fowler nicht – geht einher mit einem auch qualitativen Niedergang des modernen Kinos, das schließlich nicht nur in der Auflösung ihrer gemeinsamen Firma sowie dem Krebstod seines Freundes Jim Sturgeon gipfelt, sondern dem Leser vor Augen führt, wie wenig Hollywood im Allgemeinen und deren Satellitenmärkte im Besonderen noch den Mut aufbrachten, bis auf wenige OSCAR Kandidaten wirklich interessante Geschichten zu erzählen und das Publikum mit der Kraft des drehbuchtechnisch geschriebenen Wortes statt distanzierenden Computertricks zu unterhalten. So endet alleine die reine Auseinandersetzung mit dem Kino auf einer fatalistischen, tief traurigen Note. Es hilft wenig, wenn Fowler von seinem Freund mit einem besonderen Double Feature Abschied nimmt, das zumindest zu dieser Zeit noch in London besuch- und anschaubar gewesen ist.

Kurzzeitig ändert sich das professionelle sich mit der Erweiterung ihrer Aktivitäten in Richtung Los Angeles, auch eine Stadt, die mit einem „L“ anfängt. Die Kontraste könnten nicht größer sein. Fowler zeigt seine Abneigung gegen die arroganten und ungebildeten Amerikaner, die immer auf die große Chance hoffen, sie aber niemals ergreifen. Eine kulturell langweilige Stadt, in der Diskriminierung an der Tagesordnung ist und intelligente Gespräche vom Aussterben bedroht sind. In welcher es vor allem um billig und schnell geht. Es ist ein zynisches Bild, das ein deutlich frustrierter Fowler hier zeichnet. Traurig, heute vielleicht als historische Fußnote zu sehen, ist aber noch ein anderes Bild, das er zeichnet. Mehr und mehr greift mit AIDS das tödliche Virus nach vielen seiner Freunde und deren Tode viel zu früh und viel zu tragisch gleichen die fast stereotyp auf die Spitze getriebene Abrechnung mit Amerika sowie Los Angeles sehr gut aus.

Die lebhaftesten Passagen beschäftigen sich aber neben dem Kino als schönste Nebensache der Welt vor allem mit London und seinen heute nicht mehr erkennbaren sozialen Verwerfungen, wobei dieser Begriff nicht negativ oder gar rassistisch gemeint ist. „Film Freak“ ist eine Art Reiseführer, der nicht nur zu einem Ort, sondern vor allem zu einer inzwischen mit Patina durchsetzten Zeit führt, die der Leser nur noch mittelbar erleben, aber nicht mehr spüren kann. Es ist eine Zeitreise in ein Soho, das sich damals aus sich heraus neu finden und zu definieren begann.  Während er nicht selten mit den Stars und Sternchen hart ins Gericht geht und ihre Fegefeuer der Eitelkeiten als Farce entlarvt, sind seine Beschreibungen vor allem von Sohos Wardour Street mit den vielen damals dort beheimateten Produktionsfirmen warmherzig, nostalgisch und ein wenig verklärt. Immer wieder stellt er Vergangenheit und Gegenwart gegenüber. Er erzählt, was aus den Räumen solcher Studios wie Rank oder auch Hammer geworden ist. Die letzte Leichenfledderei ist der Niedergang von „Palace“, längere Zeit das britische Fanal eines neuen Aufbruchs, das schließlich auch David Bowies „Absolute Beginners“ Schiffbruch erlitten hat. Das Interessante sind die kleinen Anekdoten, wie das gigantische Raumschiff, das in einer Kneipe auf die Decke projiziert, die erste Ausstrahlung von „Star Wars“ für die Angestellten hinter den Kulissen darstellte. Ohne das Pub gegenüber, in dem man in Ruhe trinken und gleichzeitig auch Geschäfte machen konnte.  „Film Freak“ umfasst die Zeit von den siebziger Jahren, als die britische Filmindustrie nicht immer kommerziell erfolgreich oder intellektuell zugänglich, sich zu neuen Höhen aufgeschwungen hat bis irgendwo in die neunziger Jahre bzw. sogar teilweise das 21. Jahrhundert, wobei Zeit mehr und mehr wie bei der „Rocky Horror Picture Show“ zu einer Relativen wird.  Was mit auf den ersten Blick belanglos zusammengestellten „All Nighters“ im Kino begonnen hat, endet wie angedeutet in einer dunklen, aber auch  durch das Alter inzwischen pragmatischen  Erkenntnis, dass der Augenblick genossen/ gelebt werden muss.

Wie bei „Paperboy“ lesen sich Fowlers Erinnerungen – Memoiren ist ein zu starkes Wort -  dank seines gesprächigen, aber niemals wirklich intimen Stils sehr kurzweilig. Fowler ist auf der einen Seite ein Medienprofi, der aus Nichts im Grunde reklametechnisch noch Gold zu machen sucht. Auf der anderen Seite sehnt er sich nach der alten Zeit zurück, in der selbst ein billig gemachter Low Budget Film über eine Seele verfügte. Es geht ihm um den Versuch, aus den engen Bahnen der Kommerzialisierung auch einmal kreativ auszubrechen. Hinzu kommt eben das sehr lebendige, aus einer durchaus kritikfähigen „Außenseiter“ intim erzählte Portrait einer Stadt im plötzlichen Wandel nach fast dreißig Stillstand, der inzwischen so verklärt worden ist, das er ein eigenes Märchen bilden könnte. Fowler ist in den siebziger Jahren ein verzweifelter junger Mann gewesen, der nicht geplant, sondern spontan nicht selten von Anderen mit gerissen in der Stadt etabliert hat. Und so erlebt es nicht nur der Leser, sondern auch der Autor noch einmal. Als eine Reihe von zufälligen Begegnungen, richtigen Zeiten an richtigen Orten und einer Handvoll Menschen, die einen ein Leben lang begleiten sollen. Als Drehbuch hätte es vielleicht unrealistisch gewirkt, als Erinnerung spricht es den Leser auf eine sehr gefällige Art und Weise an. 

  • Hardcover: 320 pages
  • Publisher: Doubleday UK (May 13, 2013)
  • Language: English
  • ISBN-10: 0857521608
  • ISBN-13: 978-0857521606
Kategorie: