Zeit-Bombe

Wilson Tucker

Wilson Tuckers „Zeit- Bombe“ spielt einige Jahre nach seinem Roman „Die letzten Unsterblichen“. Der Originaltitel „Tomorrow plus X“ ist wahrscheinlich passender. Die beiden Bücher haben handlungstechnisch auch nur zwei Charaktere gemeinsam. Den letzten Außerirdischen und potentiell Unsterblichen Gilbert Nash und seine jetzige Frau. Im ersten Band hat Nash noch ein wenig mit ihr kokettiert und durch sie stellvertretend den Lesern die Gilgamesch Sage näher gebracht. Wilson Tucker lässt auch das Namensspiel zwischen Gilgamesch undGilbert Nash noch einmal expliziert erläutern.

 Während „Die letzten Unsterblichen“ im Grunde eine Art Reiseroman ist, in welchem die Protagonistin unbedingt wieder in ihre vor allem aufgrund des technischen Rückstands unmöglich zu erreichender Heimat möchte, ist „Zeit-Bombe“ nicht nur vielschichtiger, sondern vor allem auch politischer brisanter.

 Beide Bücher sind grundsätzlich als Kriminalroman aufgebaut. Im ersten Buch soll der erfolglose Privatdetektiv Nash nach einem verschwundenen Wissenschaftler suchen. In „Zeit- Bombe“ kommt es immer wieder zu perfiden Attentaten auf die Anführer einer faschistisch nationalsozialistisch zu nennenden Partei – die radikalpatriotische Vereinigung der Söhne Amerikas.

 Ein Spezialkommando der Polizei soll nach dem Täter suchen. Dieser agiert immer nach dem gleichen Schema. Die Explosionen finden in geschlossenen Räumen statt. Die Attentate werden immer in regnerischen Nächten verübt. Jeder Anschlag ist perfekt inszeniert und absolut tödlich. Anscheinend weiß der Angreifer, wo sich die relevanten Führer dieser Partei im Grunde in der nahen Zukunft aufhalten werden, um dann zuzuschlagen.

 Bei einem der Anschläge kommt auch der Vorgesetzte des Spezialkommandos ums Leben. Dessen Stellvertreter leidet so unter Versagensängsten wegen der miserablen Aufklärungsquote, dass er förmlich um seine Entlassung bettelt. Dieser Aspekt ist dem Leser allerdings schwer zu vermitteln. Entschlossen beginnt der Protagonist in Krimimanier auf eigene Faust und vor allem nur mit vagen Hinweisen zu ermitteln. Auf der anderen Seite scheinen die Politiker wahrscheinlich wegen der extremen Fokussierung der Attentate auch nicht sonderlich beunruhigt zu sein, dass es in naher Zukunft andere konservative Anführer des Landes erwischen könnte.

 Wilson Tucker baut noch eine lange Zeit kaum integrierte zweite Handlungsebene ein. Ein Clown mit einer „Zeitmaschine“ im Mittelpunkt seiner eher durchschnittlichen Nummer wird ermordet. Im Hintergrund spuckt dann zusätzlich nicht nur die Idee einer plötzlich von verschiedenen Konzernen zu entwickelnden Zeitmaschine herum, sondern die Version einer Zeitkamera, mit welcher man außerhalb der Chronologie Aufnahmen machen kann. Beide Aspekte sollen wahrscheinlich den utopischen Charakter des Textes unterstreichen. Sie implizieren die Möglichkeit, dass ein Mann aus der Zukunft mit seiner Maschine oder mittels einer ferngesteuerten Bombe – ein weiterer skurriler Aspekt des Romans – diese Anschläge verübt und dank seines zukünftigen Wissens so perfekt agieren kann.

 „Zeit – Bombe“ ist ein sehr kompakter Roman. „Die letzten Unsterblichen“ hat Wilson Tucker in den siebziger Jahren noch einmal überarbeitet und ein wenig erweitert. „Zeit- Bombe“ ist in seiner ursprünglichen Fassung bestehen geblieben. Diese Kompaktheit agiert teilweise gegen den auch politisch interessanten Inhalt. Manchmal braucht der Autor kleinere Sprünge, um den Handlungsbogen voran zu bringen und vor allem seinen verzweifelt suchenden Protagonisten in die richtige Richtung zu treiben.

 Ob die Begegnung mit Gilbert Nash und seiner attraktiven wie intelligenten Frau Füllmaterial gewesen ist oder tatsächlich Wilson Tucker Nash in den Kreis der potentiell Verdächtigen aufnehmen wollte, wird nicht abschließend herausgearbeitet. Nash ist aufgrund seiner Erfahrung ein interessanter wie intelligenter, uneigennütziger Ratgeber, der natürlich sein jahrzehntausende altes Wissen nicht preis geben will und preis gibt. Während Nash in „Die letzten Unsterblichen“ ein aktives Interesse an der Suche nach dem verschwundenen Wissenschaftler und später dessen höflich gesprochen ambivalenter Frau gehabt hat, spielt er zwar in der Theorie die Möglichkeit von Zeitreisen aus der Zukunft in die Gegenwart und dadurch die Heilung von gewucherten Zeitlinien durch, er verweist sie aber auch sehr schnell ins Reich der Science Fiction.

 Viel interessanter und zeitloser vor allem für einen Roman aus den ursprünglich fünfziger Jahren ist Wilson Tuckers Umgang mit der Politik im Allgemeinen und dem wieder aufkommenden Faschismus in Besonderen.   

 Die radikalpatriotische Vereinigung der Söhne Amerikas ist zwar im konservativen Mittelwesten der USA groß geworden, die Wurzeln sind aber beginnend mit dem Rassismus, der „Lehre“ von der perfekten Familie und den Aufgaben der Frau in der Kirche, an den Kindern und schließlich in der Küche nationalsozialistisch. Wilson Tucker gibt Einblicke in die hierarchische Struktur dieser ewig Gestrigen, die aber dank ihrer weißen puritanischen Position innerhalb der oberen Mittelschicht gefährlich werden können. Auch wenn sie noch eine Splitterpartei sind, sieht es Wilson Tucker als möglich an, das sie eines Tages einen weißen blonden amerikanischen Präsidenten stellen werden.

 Diese vom Bombenleger aus für den Leser nachvollziehbaren Gründen angegriffene Partei ist der politisch entscheidende Point of Divergence hinsichtlich einer Alternativweltgeschichte. Aber Wilson Tucker verweigert dem Leser eine abschließende Antwort. Der Autor impliziert gegen Ende, das tatsächlich ein Zeitreisender aus der Zukunft seine explodierenden Mahnungen schickt, aber es besteht auch die Möglichkeit, das ein hochintelligenter Forscher mit einem morbiden Sinn für Humor seine „bemannten“ Bomben effektiv platziert und die Gefahr schon an der Wurzel ersticken möchte.

 Das kriminalistische Element ist ausgesprochen gut gestaltet. Die Handlung ist nicht nur von einem hohen Tempo geprägt, Wilson Tucker erzählt ernsthaft und mittels einiger Exkurse in die menschliche Vergangenheit eine politisch zeitlose Parabel. Der Leser bewegt sich ausschließlich auf Augenhöhe der einzelnen Charaktere, wobei der Autor erst gegen Ende der Handlung das Panorama erweitert und eine zweite Handlungsebene einführt. Erst im letzten Drittel hat der Betrachter das Gefühl, über einen kleinen wie subjektiven Wissensvorsprung zu verfügen. Aber wie mehrfach erwähnt ist die Interpretation des Endes so vielschichtig, dass alles auch nur eine Täuschung gewesen sein kann.

 In „Die letzten Unsterblichen“ wie auch „Zeit- Bombe“ spielt Wilson Tucker mit Versatzstücken des Genres und kann in beiden kurzweilig zu lesenden Romanen neue, teilweise noch heute gültige Ausrufezeichen setzen, so dass sich die Neuauflage in mehrfacher Hinsicht nicht nur lohnt, sondern einen idealen Einstieg in Tuckers schräge, aber konsequente Welten bietet. 

GALAXIS SCIENCE FICTION, Band 28: ZEIT-BOMBE: Geschichten aus der Welt von Morgen - wie man sie sich gestern vorgestellt hat.

  • Dateigröße : 1516 KB
  • Word Wise : Nicht aktiviert
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe : 187 Seiten
  • Herausgeber : Apex Verlag (29. Mai 2020)
  • Screenreader : Unterstützt
  • Verbesserter Schriftsatz : Aktiviert
  • Text-to-Speech (Vorlesemodus) : Nicht aktiviert
  • X-Ray : Nicht aktiviert
  • Sprache: : Deutsch
  • ASIN : B089LKXLSF