Das Kalanos Projekt

Frank W. Haubold

Mit „Das Kalanos- Projekt“ legt Frank W. Haubold einen seiner besten Science Fiction Romane in seiner Karriere vor. Nicht selten hat sich der Autor als brillanter überzeugender Stilist erwiesen, dessen Manko die Nutzung von bekannten Plotparametern und Ideensträngen gewesen ist. Mit der ebenfalls im Atlantis Verlag aufgelegten intellektuellen „Götterdämmerung Space Opera“ hat er sich im direkten Vergleich mit seinen ein wenig zu stark konstruierten Mytery Thrillern romantechnisch freigeschwommen. In „Das Kalanos- Projekt“ nutzt der Autor bekannte Aspekte des Genres und extrapoliert sie in interessantere, teilweise auch neuartige Richtungen. Frank W. Haubold geht davon aus, dass seine Leser die technischen Ideen hinter Büchern wie „Simulacron 3“ oder den entsprechenden Filmen wie „Welt am Draht“, „Matrix“ oder „Der 13. Flur“ kennen. Eine der zahlreichen Varianten ist, dass sich Menschen in diesen virtuellen Realitäten unabhängig von ihren Körpern nicht nur bewegen können, sie sind sich bewusst, dass die menschlichen Hüllen sterblich sind oder getötet werden können.Ein mit Neal Stephensons „Corvus“  vergleichbares Thema, wobei der Amerikaner basierend auf den Videospielen aus „Error“ auch die Schaffung dieser virtuellen Welten umfangreicher und  detaillierter betrieb als es Frank W. Haubold sich vorgenommen hat. Das soll keine Kritik sein, denn der Deutsche spielt mit den sozialen Erwartungen nicht nur seiner Protagonisten, sondern vor allem auch der entsprechenden Umwelt. Interessanterweise setzen sich beide Romane auch mit der Idee eines Gott, vielleicht eher eines Schöpferkomplexes auseinander.

Fabian Grünberg und Lena reisen aus unterschiedlichen Gründen zu einem der bekannten „Free Island Projekte“ aus. Diese nicht nur politischen Freizonen sind ganz anders als die reglementierte industrielle und gewalttätige erste Welt, aus welcher sie kommen. Sie lassen  die Zivilisation hinter sich und fangen neu an. Die Auswanderung und damit auch die Aufgabe der bürgerlichen Rechte ist generell nicht verboten, wird aber auch nicht wirklich gerne gesehen. Mit der Einreise verlieren die neuen Freibürger als sozialen wie bürgerlichen Rechte ihrer Staaten. Fabian Grünberg hat sich nebenbei als zynischer Schriftsteller von Kurzgeschichten versucht. Aber die erdrückende Enge und die Folgen eines Terroranschlags in unmittelbarer Nähe haben ihn bewogen, neu auf der griechischen Insel Kalanos anzufangen. Lena hat in ihrem bürgerlichen Leben keine Ruhe gefunden. Ihre Arbeit war langweilig und Männer in erster Linie Enttäuschungen. Mit knapp Mitte vierzig will sie es noch einmal wissen.

Auf dem Flughafen wird Fabian Grünberg in der Tradition von „EScape from New York“ ein Angebot gemacht, das er nicht ablehnen kann. Kalanos ist nicht das, was es vorzugeben scheint. Vor allem Computerspezialisten und Geisteswissenschaftler sind auf die Insel ausgewandert. Die Geheimdienste wollen nähere Informationen erhalten.

Die erste Hälfte des Buches widmet sich Frank W. Haubold dem Aufbau des Hintergrunds. Ab der Mitte des Romans stellt sich heraus, es handelt sich eher um ein Sprungbrett denn das idyllische Außenseiterparadies basierend auf kommunistischem idealisierten Gedankengut.  Geschickt führt Haubold auch die „Schicksale“ von Lena und Fabian Grünberg zusammen. Lena verliebt sich in den einheimischen deutlich älteren griechischen Fischer Georgius. Er zeigt nicht nur ihr die Schönheiten der Insel.  Absichtlich bis an den Rand des Klischees malt Haubold das Aussteigerleben mit wenigen Wünschen, weißen Stränden und einem einfachen, an der Grenze zur Armut befindlichen, aber innerlich zufriedenstellenden Leben. Bis Lena die Wahrheit erkennt und drastisch darauf reagiert.

Fabian Grünberg begegnet nach seiner „Überfahrt“ einer schönen jungen Frau, die gleich mit ihm Sex haben will. Sie heißt Lena. Sie berichtet von ihrer Ankunft auf der Insel. Der Leser ahnt, dass die nächtliche Schifffahrt inklusiv der Decken und des Tees sehr viel mehr ist als es auf den ersten Blick scheint. So sind die ersten Wochen auf der Insel für den Berufszyniker eine Art Rausch. Wein, Weib = Lena und Gesang. Abends ein bisschen Musik in der Kneipe machen, anschließend viel Sex. Selbst Fremdgehen wird ihm von dieser im Grunde unglaublichen Frau verziehen.

Kurze Zeit nach seiner Ankunft erhält Fabian Grünberg aber auch Besuch von örtlichen Komitee, dem ein ebenfalls ausgewandeter, lange Zeit mit seinen extrovertierten Romanen provozierender Schriftsteller vorsteht.

In der zweiten Hälfte des Buches beginnt sich der Autor Frank Haubold nicht nur mit alternativen Lebensstylen, sondern auch sozialen Grundkomponenten auseinanderzusetzen. Natürlich lässt sich argumentieren, dass die Idee des Paradies auf einer griechischen Insel fast eine Art Machotraum ist. Sonne, Strand, Meer, keine harte Arbeit. Alle den Menschen / den Mann treibenden Aspekte fallen weg. Die Frauen sind immer willig und vor allem auch sexuell aktiv. Da wird ein bisschen bi nicht nur zu einer verführerischen Chance, sondern regt natürlich umgehend die Libido des Mannes an.  Die zweite Lena ist willig und immer erregt. Sie ist erfinderisch, nicht eifersüchtig, Mutter und Hure in einer Position. Sie kann zuhören, sie ist nicht eifersüchtig und  versteht, dass Fabian Grünberg in das Patriachart eingegliedert auch eine Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft hat. Und wenn er über die Strenge schlägt, dann aufgrund des bösen Einflusses von „außen“. Auch wenn die Frauen immer befriedigt werden, richtet sich Frank W. Haubold unbewusst oder vielleicht zu diesem Zeitpunkt des Romans absichtlich an den niederen Instinkten des Mannes, aber nicht des Menschen aus. Lena und Fabian kennen aber auch die Geheimnisse dieser Welt. Sie zerbrechen aber nicht an ihnen, sondern sehen sie als Chance, die Fehler des alten Lebens nicht zu wiederholen.

Frank W. Haubold umschifft noch die Idee, das der Keim der Fäulnis schon im Paradies gesät worden ist.  Mit Anspielungen auf Jonathan Carrolls „Das Haus des Lachens“, aber vor allem auch Ballards „High Rise“ beginnt der Autor sein Szenario in eine interessante Richtung zu entwickeln. Kalanos ist bald für alle Menschen zu klein. Neue Paradiese müssen geschaffen und Menschen zur „Auswanderung“ bewegt werden. Bald sind die Inseln zu klein und das Patriachart spielt mit der Idee, eine moderne Stadt viel besser aber doch irgendwie auch ähnlich den Molochstädten zu entwickeln, aus denen die meisten Aussteiger kommen. Fabian Grünberg ist zusammen mit seinem Freund einer der Wenigen, der vor einer beginnenden Kriminalisierung und vor allem einer sozialen Verwahrlosung warnt.

Argumentativ ist provokanter Weg, denn wieder stellt Frank W. Haubold für den Leser zu diskutieren die These auf, dass kaum seine Einwohner ernährende Inseloasen mit vor allem Tauschhandel besser sind als die industrielle Gegenwart, die nicht nur, aber auch eben für die moralische Degeneration verantwortlich ist. Dabei haben sich die gut ausgebildeten Auswanderer auf der ursprünglichen Insel Kalanos ja auch nicht unbedingt intellektuell weiterentwickelt, sondern sich ihren Trieben hingegeben.   

In der zweiten Hälfte des Romans  bietet Frank W. Haubold auf engsten Raum ein Feuerwerk von verschiedenen ineinander verschlungenen und aufeinander aufbauenden Ideen an. Während auf den vielleicht ersten einhundert Seiten jede Reise mit dem ersten, vielleicht sogar befreienden Schritt begonnen hat, nehmen sich die Protagonisten selbst in schwer für den Leser vorstellbare Räume im Grunde mit. Überbevölkerung in den freien Zonen; die wahrscheinlich provozierte oder zumindest zugelassene wie von außen manipulierte Verwahrlosung in der Stad; ein finaler Atomkrieg ohne Rückkehrmöglichkeit der „Auswanderer“ und schließlich die Reise zu den Sternen. Viele Autoren hätten jedes einzelne Szenario in einer Novelle oder vielleicht auch einmal Roman verarbeitet. Immer eng verbunden mit dem persönlichen Schicksal sehr weniger den Plot tragender Protagonisten entwickelt Frank W. Haubold die einzelnen Szenarien basierend auf dem Geheimnis des „Kalanos Projekts“ weiter.

Am Ende kehrt aber im übertragenen Sinne alles wieder zu seinem Anfang zurück. Melancholisch, nachdenklich stimmend und schließlich auch optimistisch beendet Frank W. Haubold diese Geschichte. Für manche Leser stellt sich die Frage, ob nicht eine kontinuierliche Stimulation des Geistes – egal ob in künstlerischer, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher oder leider auch politisch militärischer Hinsicht – notwendig ist, damit sich eine Gesellschaft aus den eigenen aber auch den Fehlern anderer weiterentwickeln kann. Dem eigentlichen Kalanos Projekt droht im Grunde Stillstand, Degeneration. Der Mensch kann sicherlich als ein seine Triebe befriedigendes Wesen leben, aber schon die Idee mit den Löwen zeigt, dass er selbst in dieser Hinsicht neue Herausforderungen, aber vielleicht auch neue moralische Grenzen sucht, die er nicht selbstlos, sondern egoistisch verletzen und abschließend überschreiten will.

Wie die Stadt an der sozialen Ungerechtigkeit und dem Neid – egal ob berechtigt oder nicht – zusammenbricht, ist auch die Enklave auf der kleinen griechischen Insel vom innerlichen Zerfall bedroht. Die reale Lena ist ein typisches Beispiel. Sie nimmt ihre eigenen Moralvorstellungen mit und scheitert an dem „La Dolce Vita“, das Gregorius seit vielen Jahrzehnten betreibt.

„Das Kalanos Projekt“ ist eine interessante Extrapolation vor allem menschlichen Verhaltens auch vor einem kosmischen Hintergrund. Nicht jeder Schritt wird von Frank W. Haubold ausführlich erläutert. Nicht selten muss der Leser aus dem Nichts kommende Fakten akzeptieren. Die Eingrenzung des Netzes aufgrund des schlechten Gewissens eines Verantwortlichen sei hier beispielhaft erwähnt. Aber alleine das Feuerwerk von gut entwickelten Ideen vor bekannten Hintergründen hält den Leser auch beim gemäßigten, aber atmosphärisch stimmigen Tempo der ersten Romanhälfte bei der Stange.  An einzelnen Stellen agiert Frank W. Haubold fast überambitioniert. Der Atomkrieg verwehrt den Schritt zurück und erzwingt quasi einige Entscheidungen. Es wäre interessanter gewesen, ohne diese finale Barriere der menschlichen Evolution durchaus in der Tradition eines Arthur C. Clarkes, aber auch eines Stephen Baxters und abschließend eines Neal Stephenson zu folgen. Aber das sind alles kleine Schwächen in einem Roman, der die Science Fiction nutzt, um sich dem Phänomen Mensch zu nähern.          

 

Das Kalanos-Projekt

  • Herausgeber ‏ : ‎ Atlantis Verlag (17. September 2021)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 226 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3864027950
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3864027956
  • Abmessungen ‏ : ‎ 14.9 x 2 x 21.4 cm