Stamping Butterflies

Jon Courtenay Grimwood

Jon Courtenay Grimwoods "Stamping Butterflies" ist eine faszinierende Lektüre, die immer wieder aus dem nicht konsequent überzeugend umgesetzten Romankonzept auszubrechen sucht. Cineastisch ist der Roman am ehesten mit "The Fountain" zu vergleichen, einer multidimensionalen und drei unterschiedlichen Zeiten - Vergangenheit einfließend in die Gegenwart und eine ferne wie phantastische Zukunft - spielenden Geschichte voller Experimentierfreude, Menschlichkeit aber auch nicht immer logischer Extrapolation von in diesem Fall Quantenmechanischen Konzepten.

Grimwood fordert seine Leser auf der einen Seite auf, den gedanklichen Elfenbeintürmen des Autoren zu folgen und gleichzeitig auf der anderen Seite eine im Gefolge des 11. Septembers fast politisch radikale Position einzunehmen, aus der heraus Terrorismus jeglicher Colour nur eine Antwort auf die radikale Unterdrückung der dritten Welt insbesondere durch amerikanische, französische und britische Geheimdienste ist. Vielleicht ist diese schwarzweiß Malerei vor allem in einer ambitioniert konzipierten, aber zu statisch distanziert umgesetzten Geschichte eine Art Konzept, mit dem Grimwood provozieren, aber nicht alternierend erklären möchte. Von der Struktur her ist "Stamping Buttflies" einer der vielschichtigsten Science Fiction Romane der Gegenwart mit überzeugenden, sehr markant voneinander zu unterscheidenden Figuren, der sich auf den letzten Seiten in seinen Theorien zu verlieren beginnt. Wie ein Puzzle setzen sich die einzelnen Sequenzen insbesondere zweier Handlungsebenen zu einem verwirrenden Bild zusammen, das keine Erklärungen anbietet, sondern nur neue Fragen aufwirft.

Der Roman beginnt in Marokko in der nahen Zukunft. Der neu gewählte amerikanische Präsident besucht mit seiner Tochter den Norden Afrikas, als ein scheinbar verrückter Einzeltäter mit einem antiquierten Gewehr auf ihn schießt. Er verfehlt sein Ziel, lässt sich aber ohne Widerstand gefangen nehmen. Um seine Identität ranken sich eine Reihe von Rätseln. Die Geheimdienste nennen ihn "Prisoner Zero" und versuchen seine Motive mittels Folter zu ergründen. Diese teilweise ausgesprochen brutale Handlungsebene mit Oppositionellen, die in seinem auf den ersten Blick in sich gekehrten Einzeltäter einen Heiland der ganzen Bewegung sehen, überzeugt am meisten. Grimwood zeichnet ein grimmiges Bild Nordafrikas, das schon im Mittelpunkt seiner mit verschiedenen Preisen ausgezeichneten Alternativwelt gestanden hat. Um den Eindruck einer trostlosen Gegenwart bzw. nahen Zukunft zu verstärken, fügt der Autor eine die Hintergründe, die zwischenmenschlichen Beziehungen erweiternde in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts spielende Handlungsebene hinzu. Der Leser ahnt nicht, in welchem Zusammenhang diese überwiegend täglich ums Überleben kämpfenden Kinder mit "Prisoner Zero" stehen. Diese Ambivalenz der Persönlichkeiten erhöht auf der einen Seite die Spannung, hat aber auf der anderen Seite zur Folge, das zu viele verschiedene Theorien auf den Leser einzustürzen. Zuerst handelt es sich um einen verrückten arabischen Einzeltäter. Dann anscheinend um einen ehemals Drogensüchtigen Amerikaner, der vor einigen Jahren in Amsterdam verschwunden ist. Für die Geheimdienste spielt die eigentliche Tat bald keine Rolle mehr, da dieser Unbekannte eine im Grunde die Welt verändernde Quantentheorie entwickelt hat, die er bruchstückhaft an den Gefängniswänden seiner kargen Zelle vor den staunenden Geheimdienstlern ausbreitet. Die Idee, ihn zum Schein zu töten, um an die Formel zu kommen, wird übermächtig, bevor Autor und Geheimdienste diese Facette aus dem Nichts kommend wieder fallen lassen, als die wahre Identität - so hat man inzwischen verwirrt den Eindruck - an die Oberfläche kommt und Grimwood sich zu stark an Patricia Highsmiths Romanen um Tom Ripley orientiert.

Die zweite Handlungsebene spielt in einer fernen Zukunft, in der als letzter Spross einer Generationen alten Dynastie Chung Tzu über verschiedene Dysonsphären herrscht, in denen er sich wie ein Tyrann verhält. Milliarden von Menschen schauen ihm in einer Variation der „Truman Show“ zu, während er seine eigene Umgebung als künstliche Illusion angeleitet von einer gigantischen „Bücherei“/ künstlichen Intelligenz ansieht. Erst am Ende des Romans wird er aus dieser Scheinwirklichkeit erwachen und Iain Banks zynischen „Culture“ Romanen folgend die Wahrheit erkennen.

Der Titel ist wahrscheinlich auch eine Anspielung auf die Auswirkungen des Flügelschlages eines Schmetterlings, welcher die Geschichte verändern kann. Insbesondere in der futuristischen Handlungsebene dienen diese wunderschönen Tiere durchaus realen Zielen. Sie bilden die Verbindung zwischen der erlebten Suggestion Tzus Umgebung und seinen eigenen, kontinuierlich bizarrer werdenden Träumen. So poetisch auch der Titel sein mag, er führt den Leser in eine falsche, von Grimwood nicht überzeugend relativierte Irre, in welcher die beschriebenen Realitäten Möglichkeiten, aber keine Absolutismen sind. Damit negiert er viele Ideen seiner Gegenwartsebene, die am stärksten von den unterschiedlichen, aber immer überzeugenden Charakteren dominiert wird.

Der „Prisoner Zero“ als Enigma zwischen wahnsinnigem Einzeltäter und Genie ist die Schlüsselfigur des Romans. Er öffnet sich weder seinen Peinigern noch seinem Anwalt oder den Ärztin, die seinen Geisteszustand untersuchen. Für den Leser bleibt er ein Rätsel. Ist er verrückt? Haben seine Taten und damit eng verbunden seine Botschaften an den amerikanischen Präsidenten hinsichtlich der Eroberung des Alls einen aktuellen, realistischen Bezug? Handelt es sich um einen Märtyrer im islamitischen Sinne? Was ist von seiner Vergangenheit real, was ist eine erdachte Geschichte, was eine übernommene Rolle? Diese Vielschichtigkeit macht die Figur so bedauerns- wie bewundernswert zugleich. Da Grimwoode nach dem fehlgeschlagenen Attentat „Prisoner Zero“ im insbesondere relevanten Mittelteil zur Passivität verdammt, fehlt ihm vielleicht das Charisma, das Alan Moore „Vs“ so auszeichnete. Auf der anderen Seite kann der Autor das Menschen verachtende Verhalten der Geheimdienste im Detail inklusiv diverser perverser Foltermethoden beschreiben. Der Gegenentwurf in der Theorie wäre der allseits beliebte, aber nicht besonders erfolgreiche amerikanische Präsident. Ein ehemaliger Schauspieler, der gerne wissen möchte, ob er aufgrund seines Amtes oder durch einen Zufall Ziel des Attentäters geworden ist. Vielleicht ein wenig zu sehr am Rande des Klischees dichtet Grimwood dem Präsidenten eine Affäre mit seiner opportunistischen Geheimdienstchefin an. Das Ende mit dem populistischen Handreichen wirkt cineastisch sicherlich stark, ist aber von Grimwood zu wenig durchdacht. In einer Zeit, wo Kinder mehr als willige Opfer machthungriger Tyrannen, sondern manipulierte Kreaturen sind erscheint die vom Autoren beschriebene Szene in jeglicher Hinsicht unrealistisch und das Ende vorhersehbar, aber leider nicht schockierend.

Während Tzu in seiner fernen Zukunftsoase eine außergewöhnliche schwache und zu ambivalent gezeichnete Figur ist, die als fatalistisches Opfer sehr viel effektivern gewesen wäre, wachsen dem Leser die marokkanischen Jugendlichen Moz und Manika sehr viel schneller als Herz. Sie sind in vielerlei Hinsicht reine Opfer. Opfer eines Staates, der sich um seine Jugend nicht kümmert. Opfer westlicher Mächte, die ihre Not ausnutzen. Opportunisten, was den alltäglichen Überlebenskampf angeht und schließlich verblendete Terroristen, die Opfer ihrer Naivität werden. In letzter Sekunde versucht der Autor diese dunkle Handlung, beginnend in den anarchistischen siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf den Kopf zu stellen und scheitert angesichts der realistischen wie eindringlichen Beschreibungen bei dem Versuch.

Während der Plot als Ganzes betrachtet etwas zu stark konstruiert, etwas zu wenig natürlich fließend und gegen Ende schwach abgeschlossen erscheint, überzeugt neben der schon hervorgehobenen Charakterisierung der wichtigsten Protagonisten der vielschichtige, ausgesprochen realistische und atmosphärisch ungewöhnlich dichte Hintergrund der Geschichte. Grimwoods Marokko der nahen Zukunft lebt in vielfacher Hinsicht. Der Autor achtet auf die kleinen Details, welche dieses Cybercasablanca so überzeugend machen. Die Jagd nach den arroganten Touristen und den angeblich so märchenhaft gigantischen Geldströmen, die sich im Grunde nur an einer untergegangenen Kultur und ihrem mystischen Ruf laben. Die korrupten Politiker, der kaufbare wie billige Sex werden vom Autoren so packend beschrieben, das man in dieser Welt zwar nicht verweilen, aber als passiver Beobachter dran bleiben möchte. Die Mischung aus Fragmenten des kaiserlichen Chinas und den künstlichen Intelligenzen, welche die Dysonspähären nach Gutdünken steuern und manipulieren wirkt dagegen ein wenig blasser. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird angesichts einer Fülle von Details trotzdem herausgefordert.

Wie schon angesprochen ist „Stamping Butterflies“ eher eine intellektuelle Herausforderung denn eine abgeschlossene wie gänzlich zufrieden stellende Geschichte. Es ist ein interessantes, betrachtenswertes wie den Leser stetig herausforderndes Stillleben, dem auf der einen Seite das Herz fehlt, das aber auf der anderen Seite visuell wie optisch immer wieder neue Facetten präsentiert.           

Jon Courtenay Grimwood: "Stamping Butterflies"
Roman, Hardcover, 385 Seiten
Orion Books 2004

ISBN 9-7805-7507-6136