Das schwächste Element am Nachdruck des in den fünfziger Jahren sechs Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ursprünglich veröffentlichten Thrillers „The Night Walker“ ist das Titelbild von Tim Gabor. Es sieht im negativen Sinne künstlich aus und scheint eher wie ein verunglücktes Plakat zu wirken. Im Internet findet sich eine Reihe von Abbildungen der verschiedenen Auflagen, bei denen vergleichbar gestaltete Titelbilder intensiver und packender erscheinen. Der Leser sollte sich aber nicht von dem unglücklichen Titelbild abhalten lassen. „The Night Walker“ ist ein über weite Strecken interessanter, wenn auch nicht richtig packender Spionagethriller, der ausgerechnet in der Zeit des Koreakrieges die Paranoia und Angst der Amerikaner vor den Kommunisten nicht adäquat genug widerspiegelt. Dabei ist der Autor Donald Hamilton ein Routinier des Spionagethrillers, der vielleicht nicht mit dem deutlich aggressiveren Stephen Marlowe mithalten kann, aber trotzdem einige Ideen des Film Noir wie den gebrochenen Helden, den Femme Fatale und nicht selten einer Verschwörung, in welche der unglückliche Protagonist eher beiläufig stolpert interessant extrapoliert.
Vor allem ist Donald Hamilton im Gegensatz zu vielen anderen Autoren dieser Zeit ein Schriftsteller, der gebrochene Figuren aus sich heraus entwickeln konnte, die nicht selten allerdings auch über den eigentlichen Plot herausragen. Bei der Handlungsführung leidet Donald Hamilton nicht nur in „The Night Walker“ unter der Schwäche, ein zu großes Haus zu planen, das inhaltlich auf einem zu leichten Fundament steht.
Marine Lieutnant David Young wird wahrscheinlich wegen des Koreakrieges wieder eingezogen. Im Zweiten Weltkrieg ist er – wie Rückblenden zeigen – an Bord eines amerikanischen Flugzeugträgers von einem japanischen U Boot versenkt worden. Young leidet seitdem unter einem Trauma. Das Geld für die Reise zur Basis vertrinkt er. Ein ihm fremder Mann will ihn aber mit seinem Wagen mitnehmen. Die beiden unterhalten sich, wobei die Gespräche sich nicht nur um Privatyachten von dem Autofahrer selbst konstruiert, schöne junge Mädchen und Probleme mit seinem Job in Washington drehen, der Fahrer wird immer drängender, als wenn Young ein Teil seines Lebens werden soll. In einem Moment der Unachtsamkeit schlägt ihn der Mann.
Young wacht in einem Krankenhaus auf. Nur durch einen Zufall hat er bewusstlos den Unfall überlebt. Der Wagen ist in den Graben gesteuert worden, anschließend hat er Feuer gefangen. Youngs Gesicht ist bandagiert. Die Krankenschwester spricht ihn mit einem falschen Namen an, seine Kleidung ist weg und nur die Papiere seines Mörders liegen im Krankenhaus vor. Anscheinend hat dieser seine Identität gestohlen.
Anscheinend ist er auch verheiratet. Die zerbrechliche, blonde und hübsche Elizabeth will unbedingt in Young ihren Mann erkennen. Kein Wunder, sie ist der Ansicht, dass sie ihn in der Nacht des Unfalls bei seiner Rückkehr erschossen hat. Ihr Hausarzt verliebt in die unglückliche Ehefrau hat den Leichnam beseitigt. Anscheinend hatte der Ehemann Gründe, aus den USA zu verschwinden und eine fremde Identität anzunehmen.
Die erste Hälfte des Buches ist ein wenig naiv und wirkt aus heutiger Zeit auch nicht sonderlich gut gealtert. Lange Zeit fragt sich der Leser, warum der Ehemann nach dem potentiellen Mord an Young überhaupt zu seiner Ehefrau betrunken zurückkehrt und sie nach sechs Monaten bittet, im Leichenschauhaus Young als toten Ehemann zu identifizieren. Hätte der Täter - es ist wichtig, in diesem Punkt einen Schritt zurück zu machen - sorgfältiger und ruhiger gearbeitet, sich überzeugt, dass Young wirklich tot und verbrannt ist, dann wären die folgenden Dominosteine nicht gefallen. Eine vollständig verbrannte Leiche wäre auch von der Ehefrau schwer zu identifizieren gewesen und viele heutige Hilfsmittel gab es in den fünfziger Jahren nicht.
Donald Hamilton baut rückblickend seinen Fall von diesem Moment an auf. Young ist nicht unbedingt ein ehrgeiziger Offizier und es könnte ihm auch gefallen, in die Rolle des Ehemanns mit einer attraktiven Frau zu schlüpfen, wenn nicht irgendwo in seinem tiefsten Inneren ein loyaler Amerikaner ruhen würde, der unbedingt hinter das mögliche Spionagegeheimnis kommen möchte. Erschwerend kommt noch hinzu, dass der Arzt der Familie auch ein Auge auf die schöne Witwe geworfen hat und die Leiche nur heimlich beseitigte, um bei ihr zu punkten.
Auf dem Weg zum Finale mit dem eher unwahrscheinlichen Antagonisten inklusiv der entsprechenden Abschlussrede greift Donald Hamilton auf einige Klischees zurück. In der Nacht glaubt Young, dass ihn der tote Ehemann aus dem Dunkel heraus beschossen hat. Er konnte nur die Silhouette sehen. Sollte die Ehefrau vielleicht doch keine Mörderin sein? Damit bricht wieder ein kleines Mosaikstückchen aus dem Fall, Young und der Leser werden auf eine falsche Fährt gelockt.
Technisch gesehen hätte Young das Rätsel nicht wirklich lösen können, wenn nicht wieder in diesem Fall die Handlanger des Antagonisten einen nur bedingten Fehler macht hätten. Es erscheint eher unwahrscheinlich, dass der kaum ausgerüstete Young eine private ihm unbekannte Segelyacht erkennen und aus dieser Entfernung den Namen lesen kann. Und selbst wenn dieser Zufall eintritt, hat er immer noch keinen stichhaltigen Beweis. Auch erscheint es seltsam, dass eine Technik aus dem Zweiten Weltkrieg ein wenig extrapoliert noch überzeugend funktionieren kann. Immerhin kommen die Spione ja nicht in das Herz der Anlagen und alleine eine Überwachung der Schiffsbewegungen der großen Marineeinheiten in den USA haben so gut wie keinen Einfluss auf einen Konflikt in Asien. Selbst ohne die heutige Satellitentechnik könnte ein potentieller Feind irgendwo auf dem Meer erkennen, wo sich die jeweiligen Flotten hinbewegen. So wirkt die Grundidee eher wie eine Art MacGuffin, um die Stärken oder besser gesagt Schwächen der einzelnen Protagonisten im Miteinander wie auch der Aktion/ Reaktion auf die Umwelt psychologisch geschickt auszuloten.
In der Thrillerliteratur der fünfziger Jahre ist es selten, dass ein gebrochener Charakter im Grunde Antiheld sein kann. Mehrere Jahre nach dem Untergang des Flugzeugträgers wacht Young immer noch von seinen Alpträumen geplagt auf. Er hat Angst, wieder ein Schiff zu betreten, muss aber dem Ruf der Marine folgen. Aus heutiger Sicht eher im Schatten erinnert Young ein wenig an Ian Flemings James Bond, der immer wieder nicht nur brutal gefoltert, sondern vor allem auch in den späteren Romanen unter entsprechende Traumata leiden sollte. Ian Flemings James Bond ist doch ein Stück von der reinen Killermaschine mit sarkastischen Humor der Filme entfernt. Wie Young zeigen auch Elizabeth als vernachlässigte Ehefrau und die aus reichem Hause stammende sehr junge Bonmita ihre jeweiligen Fehler und Schwächen überdeutlich. Dabei ist Bonita vielleicht noch der vielschichtigste Charakter mit einer erstaunlich bodenständigen pragmatischen Perspektive hinsichtlich des Lebens im Allgemeinen und ihrer Zukunft im Besonderen. Donald Hamilton geht nicht so weit, dass sie alle im Verlaufe des innerhalb weniger Tage spielenden Plots überwunden werden können, aber alleine das Bewusstsein, dass sie an den Schwächen arbeiten, heben sie aus der Masse der nicht selten eindimensionalen Protagonisten deutlich heraus. Selbst der Schurke wird zeitweilig wie ein Profi beschrieben, der seinen eher imaginären Job macht und sich nach Normalität sehnt.
„The Night Walker“ ist ein interessanter, für die Hard Case Reihe auch ungewöhnlicher Spionagethriller, der leider stellenweise weniger als homogene Geschichte denn aufgrund der einzelnen Bestandteile überzeugt. Die differenzierte Zeichnung der Protagonisten gleicht einige stereotype Schwächen der Handlung sehr gut aus. Am Ende wird der Leser mit einem kurzweilig zu lesenden, flott startenden und hektisch endenden aber auch eher glatten, nicht paranoiden oder provozierenden Spionagethriller im Mantel eines Hardboiled Thrillers belohnt.
- Taschenbuch: 224 Seiten
- Verlag: Hard Case Crime; Auflage: Unabridged (29. März 2011)
- Sprache: Englisch
- ISBN-10: 9780857683489
- ISBN-13: 978-0857683489