Anime-Kritik zu Die Walkinder: Ein Meer voller Lügen

Die Walkinder Titel

Die Walkinder Titel

Ziellos treibt eine Insel aus Lehm über das Meer, an Bord leben ein paar Hundert Menschen in einer pazifistischen Utopie. Keiner der Bewohner kennt ein anderes Leben, die Insel namens Mud Whale (frei übersetzt: Schlammwal) steuert kein Land an, Isolation wird zur Normalität. In der scheinbaren Utopie der neuen Anime-Serie Die Walkinder auf Netflix herrscht ein vollkommen anderes Selbstverständnis: Selbst das Meer, auf dem die Insel treibt, füllt anstatt auch nur einem Tropfen Wasser lediglich endloser Sand.

In Die Walkinder erschafft das Studio J.C.Staff eine Ghibli-typische Fantasiewelt und füllt selbst eine beige Wüstenlandschaft mit harmonischen Farben. Eine neue Perspektive kriegt die Serie mit einem geschickten Stimmungswechsel. In Feinarbeit wird die anfänglich kindgerechte Illusion von Frieden nach und nach gnadenlos dekonstruiert. Der Zuschauer erkennt aus einer realistischen Perspektive heraus natürlich schnell Ungereimtheiten in der Handlung, neu ist jedoch der Umgang mit diesem beobachtenden Blick.
Noch mehr als Sand sind im Anime nämlich Lügen vorhanden. Die ganze Realität der Protagonisten ist durch Trug und Täuschung bestimmt. So viel sogar, dass der Zuschauer schnell aus dem Blick verliert, wo denn jetzt die wirklich relevante Wahrheit versteckt ist. Wer gedanklich einem Red Herring hinterherjagt, stellt schnell fest, dass es im Sand ja keine Fische geben kann und plötzlich Blut die dominanteste Flüssigkeit auf dem Bildschirm ist, nicht Wasser. So wird aus der Utopie dann doch rasant eine Dystopie.

Wenn Kinder zu Kämpfern werden

Mit einem Blick in den Alltag auf dem Mud Whale beginnt Die Walkinder langsam. Die auf dem Sandmeer treibende Insel erinnert an ein Kreuzfahrtschiff aus Lehm und beherbergt eine ähnliche Zahl an Passagieren. Die Bevölkerung steckt in einem feudalen Leben fest, das von Ernte und Regen bestimmt wird. Nahrungsknappheit ist auf der dürren Seefahrt schließlich immer eine Gefahr. Der Zuschauer muss kein Verständnis von Demografie haben, um schnell einen kuriosen Altersdurchschnitt zu erkennen. Der schwimmende Schauplatz beherbergt überdurchschnittlich viele Kinder und junge Erwachsene.

Der vierzehnjährige Protagonist Chakuro gilt somit als einigermaßen reif und ist schon in das Berufsleben eingestiegen. Als Archivar überwacht er Aufzeichnungen aller Einwohner des Schiffs und weiß somit bestens Bescheid über die Gründe des Altersdurchschnitts - so glaubt er jedenfalls. Ein Großteil der Menschen auf dem Mud Whale verfügen über magische Fähigkeiten, mit denen sie etwa Objekte levitieren lassen können. Der Preis ist ein früher Tod: Kaum ein junger Magier erreicht die Dreißig.

Die Walkinder - Protagonisten

So präsentiert die Serie auch gleich am Anfang eine interessante Kultur: Da der Tod alltäglich ist, gibt es einen anderen Umgang mit dem Thema. Auf der Beerdigung, natürlich ohne Erde und mit viel Sand, sollen selbst kleine Kinder nicht weinen. Das klappt natürlich nicht immer, aber es herrscht keine bedrückende Stimmung - die Einwohner des Mud Whale leben herzlich und mit Freude.

Natürlich hält diese Harmonie dank einer Entdeckung von Chakuro nicht lange an und wird mit einem emotionalen Vorschlaghammer zerschmettert. Eines Tages macht die Bevölkerung eine kuriose Entdeckung: Eine andere Insel driftet in der Ferne. Das Team um Chakuro und Freunde macht sich sofort auf, um das neue Land auszukundschaften, ehe es unerreichbar ist. Der Nachwuchsschreiberling entdeckt dabei die gleichaltrige Lykos, die ihn erschöpft mit ihrer Magie angreifen will. Nachdem sie sich beruhigt hat, bringen die Abenteurer das Mädchen auf den Mud Whale.

Lykos scheint zwar überrascht von dem kleinen Paradies, wirkt jedoch entfremdet von den frühen Toden der Bewohner - obwohl ihr, nach dem Wissen von Chakuro, mit eigenen Fähigkeiten auch ein Ableben Ende Zwanzig droht. Der verschwiegene Ältestenrat ist schockiert von der Anwesenheit des Mädchens, und Chakuro gerät gegen den Willen der Erwachsenen an geheimes Wissen. Lykos ist eine Apátheia, eine Kämpferin des mysteriösen Imperiums, die ihre Emotionen verloren hat. Natürlich lassen die kriegerischen Kameraden von Lykos nicht lange auf sich warten. Die pazifistischen Kinder des Mud Whale stehen erstmals in seiner langen Geschichte vor einem gewalttätigen Konflikt.

Die Walkinder - Malerei

Viel Vorgeschichte und wenige Konsequenzen

Schon nach wenigen Folgen ist der wahre Charakter der Anime-Serie erkennbar. Der Sonnenschein über dem Mud Whale verschwindet hinter einem nicht gerade subtilen Schleier aus Gewalt. Der mysteriöse Aspekt von Die Walkinder bleibt aber durch die gesamte Handlung erhalten und setzt sich mit der Aufdeckung eines umfangreichen Lügenkonstrukts von der Konkurrenz ab. Gegen Ende manifestieren sich dann die Schwächen eines Drehbuchs, das gleichzeitig brutal, ruhig und geheimnisvoll ist. Es bleibt wenig Zeit, um mit dem aufgedeckten Wissen Szenarien zu konstruieren, und mit der Einführung von neuen Charakteren im Finale endet der Anime mit vielen Fragen. Eine zweite Staffel ist nicht bestätigt, und so wirkt die Serie unvollendet wie ein Prequel, das einer größeren Geschichte den Weg ebnen soll.

Auch muss der Zuschauer schnell hinnehmen, dass Die Walkinder sich in nur zwölf Folgen wenig Zeit nimmt, Charaktere zu entwickeln. Dabei bilden die Hauptcharaktere mit dem ruhigen Chakuro, der emotionslosen Lykos und dem eiskalten Ouni eine interessante Dreiecksbeziehung. Die verschiedenartigen Figuren können fast so etwas wie eine Chemie aufbauen, doch das charmante Zusammenspiel endet immer wieder schnell als Vehikel, um den Plot voranzubringen. So bleibt es dann doch bei vorhersehbaren Rollen, wenn Chakuro Lykos spielerisch beibringt, Emotionen zu verstehen. Weniger überraschend sind somit natürlich auch die eindimensionalen Nebencharaktere. Davon gibt es viele, aber offensichtlich nicht genug, sodass das Studio entschied, im Finale noch ganz neue Fraktionen einzuführen. Ein wenig nachvollziehbarer Schachzug, der den Zuschauer mit vielen Fragen zurücklässt.

Zum Glück beweisen die Macher an anderer Stelle ein glückliches Händchen. So steht und fällt die Inszenierung eines Anime natürlich auch mit den visuellen Stilmitteln. Hier darf und soll man sich an Ghibli-Filme erinnern: Kleine Details und träumerische Landschaften sind malerisch umgesetzt. Dieser Stil hält sich fast durchgängig auf einem hohen Niveau und setzt sowohl Harmonie als auch den schrecken des Krieges hervorragend in Szene. An vielen Stellen werden analoge Kunstformen wie Aquarell und Öl auf Leinwand gekonnt eingesetzt. Die Künstler von J.C. Staff wissen sehr wohl, dass sie ihr Handwerk beherrschen und scheuen nicht davor zurück, Experimente und Stilbrüche einzugehen, und diese dem Betrachter direkt vor die Nase zu halten.

Fazit

Die Walkinder ist eine interessante Genremischung, die mit malerischem Zeichenstil und neuen Ansätzen überzeugen kann. Wer von Themen wie Emotionen oder Utopien auch nur ansatzweise unterhalten wird, darf den Anime nicht verpassen. Leider bleibt der unbefriedigende Nachgeschmack, gerade einen überlangen Prolog gesehen zu haben, der womöglich nie einen Nachfolger erhält.

Die Walkinder ist im Stream bei Netflix zu sehen. 

zusätzlicher Bildnachweis: 
© J.C.Staff/Netflix

Die Walkinder PV - Japanisch

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