Devilman Crybaby Logo
In den 70er Jahren, als in Amerika die originalen Planet-der-Affen-Filme auf der großen Leinwand zu sehen waren, gab es in Japan ein Eklat, der für das Medium Anime prägend sein sollte. Manga-Zeichner Go Nagai fiel mit einer ungewöhnlich krassen Gewaltdarstellung in seinem neuen Manga Devilman auf. Der 1972 folgende Anime war wesentlich zahmer und konnte nie die dunkle Atmosphäre der Vorlage einfangen, gilt jedoch heute als Klassiker.
Beinahe ein halbes Jahrhundert später erscheint eine Neuauflage unter dem Namen Devilman Crybaby. Heute fühlt sich durch ein paar Blutfontänen niemand mehr angegriffen, weswegen man das Budget für eine treue Adaption des Manga nutzen konnte. Doch Devilman wäre nicht Devilman, wenn es nicht auch 46 Jahre später noch polarisieren könnte.
Kult-Regisseur Masaaki Yuasa entschied sich mit der Unterstützung von Netflix aber nicht nur für eine Umsetzung der grotesken Gewaltorgien, gerade hier im Westen wird dem Zuschauer schnell eine explizite, oft ausufernde Darstellung von Nacktheit und Sex auffallen. Das schockiert vor allem Nutzer, die mit japanischen Serien weniger vertraut sind. Ein Anime gilt bei vielen noch immer als Medium für Kinder und Jugendliche, hier sollte schnell die Altersfreigabe ab 16 Jahren in die Augen springen, eine sogar noch relativ gnädig ausfallende Bewertung.
Zeitlos, mitreißend und erschreckend relevant
Doch bevor Blut und Gedärme an alle Wände Japans gespritzt werden und sämtliche Putzkräfte überfordern, geht die Geschichte langsam und friedlicher los. Der 16-jährige Akira ist ein normaler Schüler, geradezu unauffällig. Seine einzige besondere Eigenschaft ist ein gutes Herz, weswegen er häufig weint, wenn anderen etwas Schlimmes widerfährt. Wer jetzt schon genau aufgepasst hat, erkennt im Titel der Serie Ähnlichkeiten: Richtig, Akira ist das angesprochene Crybaby (eine Heulsuse).
Sein gleichaltriger Freund Ryo taucht eines Tages mit Pelzmantel, Sportwagen und Maschinenpistole aus dem Nichts wieder auf. Er ist anders als Akira: Blond, gutaussehend, intelligent, reich und vollkommen empathielos. Weil die Beziehung der beiden etwas mehr als platonisch ist und Waffen im urbanen Japan von Devilman Crybaby, was eher einem dystopischen Amerika gleicht, keine Seltenheit sind, steigt Akira natürlich in Ryos Wagen.
Frisch von einer Forschungsreise in Südamerika zurück, ist Ryo besessen von der Idee, Dämonen mischen sich unter das normale Volk, töten auf Orgien und geheimen Drogenparties Feiernde und übernehmen deren Körper. Prompt wird eine solche Veranstaltung aufgesucht, um Beweise zu finden. Nach diversen Exzessen mit oberkörperfreien Damen zeigen sich die Dämonen natürlich prompt, um die besagten Gäste wortwörtlich von ihrem Oberkörper zu befreien.
Soll heißen im nächsten Moment fliegen Torsos und etliche weitere Gliedmaßen durch die Luft, während intoxikierte Tanzende langsam verstehen, dass die Gewalt keine “Vision” ist. Ryo schafft es, den schockierten Akira mit einem Dämon zu fusionieren, der danach aber noch, wenigstens charakterlich, ein Mensch bleibt. Die Heulsuse wird also zum Dämonenmann oder eben Devilman mit allen Vorzügen wie übermenschlichen Kräften.
Devilman Crybaby als eine treue Adaption des Manga zu bezeichnen, mag für viele schon nach der ersten Folge absurd klingen. Regisseur Masaaki Yuasa hat das Werk an vielen Stellen verändert, aus unterschiedlichen Gründen. Zum einen muss die Geschichte in zehn Folgen mit jeweils 24 Minuten Spielzeit passen. Das funktioniert hervorragend, da Yuasa diese augenscheinliche Schwäche der Umsetzung für sich genutzt hat.
Erzählte Zeit ist ein wichtiger Punkt in Devilman Crybaby. Anfangs braucht jede Minute lange, um Geschehnisse zu bebildern, wenige Stunden, danach Tage vergehen. Doch nachdem die Dämonen auftauchen, verändert sich nicht nur der Körper des Protagonisten Akira. Die Gewalt nimmt zu, die Welt verändert sich ins Groteske. Wochen vergehen in einzelnen Episoden, bald Monate, wenn nicht sogar mehr. Alle Aspekte der Erzählung sind perfide getaktet, das Skript läuft anders ab als in der Vorlage, jedoch passend zum Medium.
Weitere Elemente, die man als abweichend vom Manga ansehen könnte, sind eine Metaebene, die die alte Serie in der neuen integriert, und den Tausch von Antikriegs-Thematiken gegen Kritik an Homo- und Xenophobie sowie Rassismus. Diese Änderungen passen aber wiederum perfekt in das abgebildete Japan. Wie erwähnt, erinnert es an eine Dystopie eines urbanen Amerikas. Drogen, Waffen und Slums sind weit verbreitet, Gangs regieren die Straße. Hier hat das Produktionsteam sogar bekannte japanische Rapper an Bord geholt, das Ergebnis kann sich, wie der Rest des brillanten Soundtracks, hören lassen.
Oldschool, aber gleichzeitig erfrischend
Nachdem jeder Zuschauer anfangs von den hochbrutalen und geradezu absurden Kampfszenen abgeschreckt worden ist, steht die Frage im Raum, wie man diese einordnen soll. Natürlich ist es immer wieder erstaunlich und lehrreich, wie viel Blut denn in so einen winzigen menschlichen Körper hineinpasst und herausgepresst werden kann, aber ist die Gewalt in Devilman Crybaby ein Selbstzweck?
Man könnte dies einfach dem Stil und Aufbau des Produktionsteams zuschreiben. Die Bilder und Animationen sind ganz anders als bei vergleichbaren, modernen Anime-Serien. Monochrome Sequenzen sind perfekt auf dramatische Szenen im Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation abgestimmt. Malerische Szenen mit schwachen Outlines und hervorgehobenen Arm- und Beinbewegungen charakterisieren und grenzen Menschen von Dämonen ab. Yuasa ließ sogar einzelne Animatoren die gesamten Schlüsselframes einer ganzen Episode zeichnen. Damit hatte Devilman Crybaby eine wesentlich größere kreative Freiheit als besagte moderne Produktionen.
Ob die Gewalt eine spezifische Entscheidung von ihm gewesen ist, beantwortet der Regisseur schließlich in einem Interview. Die explizite Darstellung sei wichtig für die Botschaft von Manga-Zeichner Nagai, so Yuasa. Diese Botschaft sei auch heute noch genauso relevant, weshalb die getreue Darstellung sich lohne. Ohne der Handlung viel vorwegzunehmen, spielt Yuasa auf eine Verschiebung der Gewalttaten von Dämonen auf Menschen an. Zerteilen anfangs noch ausschließlich Dämonen Haut, Muskeln und Knochen, so zeigt sich die gnadenlose Brutalität der Menschen schnell. Das funktioniert und sorgt für einer schauerlichen zweiten und dritten Akt, die eben wesentlich mehr bieten als Körperflüssigkeiten und nackte Haut.
Fazit
Devilman Crybaby ist erschreckend, hypnotisch und nachdenklich. Hervorragend ausgearbeitete Animationen machen die Serie in ihren hitzigen und ruhigen Momenten zu einem Augenschmaus, auch für Cineasten. Der Anime ist außerdem etwas für Zuschauer, die sonst nichts mit dem Medium zutun haben oder alte Füchse, die sich die Trickfilme des vergangenen Jahrhunderts zurückwünschen. Aber bitte nur die abgebrühtesten Teenager (und Eltern) mitschauen lassen. Der Soundtrack wird noch lange in Erinnerung bleiben, zusammen mit Szenen, die schon The End of Evangelion inspiriert haben.
Alle zehn Episoden von Devilman Crybaby gibt es im Stream bei Netflix zu sehen.