Metro Exodus Header
Wie würde die Welt aussehen, nachdem die Bomben gefallen sind? Kann Hoffnung in einem nuklearen Fallout existieren, oder wirft die Menschheit Moral und Empathie weg, um ihre Überlebenschancen gegenseitig zu kannibalisieren? Viele postapokalyptische Szenarien haben eigenen Antworten darauf gefunden, meistens inspiriert vom Ödland aus Mad Max. Auch die Metro-Romanserie des russischen Autors Dmitri Alexejewitsch Gluchowski beinhaltet Banditen und verrückte Anarchisten mit martialischen Fahrzeugen, zusammengeschweißt aus einer rostigen VW-Käfer-Karosserie, einem Maschendrahtzaun und Panzerplatten. Doch die Dystopie aus Metro 2033 bildet die seltene europäische Perspektive auf eine atomare Nachkriegszeit ab und spielt fast ausschließlich in der Moskauer Metro. Das dritte Videospiel der Reihe, Metro Exodus, fragt nun, wie es außerhalb der Bahnschächte und Tunnel aussieht.
Sowohl der Vorgänger Metro: Last Light als auch das erste Spiel der Trilogie, Metro 2033, sind klaustrophobische Shooter in den heruntergekommenen, undichten Tunneln der gleichnamigen Stadtbahn, unter einem verstrahlten Moskau. Die Level sind gebaut wie in Spielen des Genres vor zwei Jahrzehnten: Von einem Korridor geht es in den nächsten Gang und wieder in einen Korridor. In der Realität der Romane zeichnet Gluchowski das Bild einer in sich geschlossenen Gesellschaft unter der Oberfläche. Eng an eng kauern Überlebende des Krieges und deren Nachkommen zwanzig Jahre nach dem Krieg in den Schächten und bestreiten den täglichen Kampf ums Überleben. Diese Welt ohne Sonne war bisher das Alleinstellungsmerkmal der Metro-Reihe, doch Entwickler 4A Games wirft die Spieler nun unter den blauen Himmel mit mehr Bewegungsfreiheit denn je.
Zum ersten Mal ohne Geigerzähler an die frische Luft
Noch schockierender ist die Reise allerdings für die russischen Handlungsträger: Protagonist Artyom, der zusammen mit seiner Frau Anna einer Spezialeinheit ähnlich der Spetsnaz angehört, hat keinerlei Informationen über menschliches Leben außerhalb der Metro. Doch statt auf eine Volga, die nur von Mutanten verseucht ist, stoßen sie auf zahlreiche Einwohner des zerbombten Eurasiens. Die Soldaten aus dem Untergrund besuchen verschiedene Gegenden Russlands auf einer Art Road Trip innerhalb der Geschichte. Zugegeben: Die Bezeichnung trifft nicht ganz, denn die Strecken legt die Gruppe auf Schienen zurück. In einem notdürftig zusammengeflickten Zug, der Aurora, geht es auf eine monatelange Reise durch vielfältige Gebiete, jedes auf seine Art vom nuklearen Winter gekennzeichnet. Aus dem Schnee geht es so beispielsweise in das, vollständig ausgetrocknete, Kaspische Meer.
Genau wie die Metro scheinen die meisten Gegenden dreckig und unbewohnbar: Banditen, Kannibalen und Mutanten beherrschen das Land. Nur wer hart bleibt und bis zum letzten Tropfen nicht-verstrahltem Wasser zu kämpft, kann eine weitere Woche überleben. Das Spiel strahlt in der Erzählweise und im ruppigen Gameplay, zu zeigen, wie und warum Menschen im Land wohnen. Gewalt ist meist das oberste Gebot, aber beinahe niemand hat wirklich Lust dazu. Wertvolle Munition kann man immerhin sparen, wenn ein Feuergefecht vermieden und kein Schwarm mutierter Fledermäuse auf die Siedlung aufmerksam wird. In Metro Exodus können Fremde und Gegner so geschickt umgangen werden. Ist die eigene Waffe gesenkt, reden misstrauische Eremiten auch mit ihren erklärten Feinden. Wird der Kamerad getötet, entscheidet sich der eine oder andere Bandit vielleicht dazu, doch die Waffe niederzulegen.
Der Anti-Scientology Wels-Kult
So begegnen Artyom und seine Verbündeten auf ihren Abenteuern auch einem zwielichtigen Kult, der als Gott einen riesigen, mutierten Wels in der Volga auserkoren und moderne Technologie als Todsünde eingestuft hat. Anfangs erwehren sie sich auch mit Waffengewalt den Neuankömmlingen, doch tötet der Spieler nur im Notfall und lässt die Geschlagenen ziehen, flüstern sich Kultisten Gerüchte und Geschichten über Artyom. Der Spieler kann diesen bei Außenposten lauschen: Die Bahnreisenden seien zwar Sünder, aber sie sind friedlicher als Banditen und werden euch nicht töten, wenn ihr sie ziehen lasst. Somit leben die lokalen Bürger zwar weiterhin in einem Kult mit gewöhnungsbedürftigen Ansichten, aber auch sie haben ihre eigene Art zu überleben gefunden. Ein Wels ist zwar mehr Götze als Gott, doch für die Bewohner bedeutet seine Anwesenheit spirituellen und physischen Schutz.
Eine moralisch weniger bedenkliche Lebensweise wird in der Aurora veranschaulicht. Artyom, Anna und die Soldaten haben aus dem rostigen Sowjet-Ära-Zug ein Zuhause gemacht. Mit einer Handvoll Flüchtlinge mitsamt kleinem Mädchen reisen sie zwar durch unerbittliche Temperaturen und müssen Ressourcen rationieren, machen aber das Beste daraus. Jedesmal, wenn der Spieler Ziele erreicht oder erkundet, reagieren die Kameraden darauf. Am Ende des Waggons nimmt der Mechaniker heimlich eine Raucherpause, der liebenswerte Stefan spielt auf einer Gitarre, die der Spieler optional akquiriert hat. Oder die Soldaten feiern, betrinken sich und tauschen sich mit schwerem russischen Akzent über ihre Errungenschaften aus. Das mitreisende Mädchen kann dann endlich wieder lachen, auch wenn ihr der Waffenschmied beibringt, mit waffenfähigem Schwarzpulver umzugehen.
In dem Jahr der Odyssee breiten sich ihre Besitztümer so realistisch im Zug aus, dass es stark genug an eigene Verhaltensweisen erinnert, um sich persönlich angegriffen zu fühlen. Und wer hat jetzt schon wieder Wodka in der Toilettenkabine getrunken?! Zwischen den Abenteuern wird der Spieler somit motiviert, immer wieder im Zug vorbeizuschauen und mit den Gefährten zu plaudern. Das hat Herz, macht die Charaktere greifbarer und auch einen einfachen Dialog zwischen Artyom und seiner Frau nicht nur erträglich, sondern liebenswert. Mit dieser zwischenmenschlichen Ebene katapultiert sich Metro Exodus an die Spitze von Shootern mit Erzählfokus. Zwischen der stets spannenden Atmosphäre in der zerstörten Spielwelt und dreckigen Waffen mit Ladehemmungen hat die Spielereihe immer die Handlung gesetzt und mit dem dritten Teil endlich auch ein Herz gefunden.
Fazit
Dass Metro Exodus spielerisch funktioniert, hat nach zwei Vorgängern wohl niemand bezweifelt. Aber, dass die Entwickler zusätzlich die Essenz der Serie so fantastisch herauskristallisieren konnten, überrascht. Denn es ging immer um Menschen, die in einer lebensfeindlichen Umgebung ein Zuhause finden konnten. Und hier stehen all diese Menschen im Mittelpunkt: Artyom und seine Kameraden, ein bizarrer Kult, der in Spiritualität Frieden findet und sogar von einem Ölbaron versklavte Arbeiter. Schießen kann heutzutage jeder, aber Metro kombiniert das mit Wärme, die nicht nur vom Mündungsfeuer einer Kalaschnikow kommt.
Metro Exodus ist ab heute für Playstation 4, Xbox One und den PC erhältlich.