Anime-Kritik zu Violet Evergarden: Briefe von Herzen

ve_header.jpg

Violet Evergarden Titelbild

Vor Whatsapp gab es die SMS, vor dieser Kurznachricht das Fax. Eine weitere antiquierte Form der Kommunikation ist der Brief. Heute für junge Leute schwer vorstellbar, nahmen sich die Menschen des Altertums ein Stück Papier, schrieben ihre Nachricht darauf, legten das Ganze in ein weiteres gefaltetes Papier und ließen dies dem Adressaten überbringen. Ohne blaues Häkchen und Emojis nimmt sich die Anime-Serie Violet Evergarden dieses analoge Medium vor und zeigt auf, warum damit auch in der Gegenwart eine gewisse Romantik verbunden wird.

In einem fiktionalen Europa erholt sich der kleine Stadtstaat mit dem kuriosen Namen “Leidenschaftlich” vom Krieg. Die traumatisierte Kindersoldatin Violet wird mit neuen, metallenen Armen aus dem Hospital entlassen und ihrem ehemaligen Vorgesetzten Hodgins übergeben. Dieser findet für die 14-jährige Waise Adoptiveltern, das alte Ehepaar Evergarden. Doch Violet hat sofort Probleme damit, außerhalb einer militärischen Struktur zurechtzukommen und selbstständig zu handeln. Hodgins sieht sich gezwungen, das Mädchen unter seine Fittiche zu nehmen. In einem kleinen Postunternehmen kann sie ihre neuen Hände an Schreibmaschinen trainieren und als sogenannte AKORA (Autonome Korrespondenz Assistentin) für die größtenteils analphabetische Bevölkerung Briefe verfassen. Doch der Weg zur Rehabilitation ist nicht einfach.

Krieg, Frieden und Briefträger

Dem Kultstudio Kyoto Animation (Clannad, K-On!) gelingen mit Violet Evergarden gleich mehrere erstaunliche Erfolge. So zeigte Netflix nach Verhandlungen mit dem Studio erstmals einen Anime simultan zur Veröffentlichung in Japan: Die Episoden wurden wöchentlich übersetzt und mit verschiedenen Untertiteln und Sprachausgaben gezeigt. Sonst ist es auf der Video-Plattform üblich, die Animationsserien im Ganzen zu zeigen. Das liegt auch am Ruf von Kyoto Animation.

Das Studio ist legendär für qualitativ hochwertige Filme sowie Serien und nimmt heutzutage einen Platz ein, den Mal Studio Ghibli besetzte. Eine gut ausgebaute Auswahl an hauseigenen Animatoren und Künstlern ermöglicht es dem Studio, die Arbeit an Violet Evergarden vollständig intern abzuschließen. Ohne die Mithilfe von außen sind dank komplizierter Arbeitsprozesse in der Industrie in den letzten Jahrzehnten nur eine Handvoll Filme und Serien entstanden. Damit möchte Kyoto Animation einen hohen Standard wahren und Talente sichern. Diese quasi einzigartigen Qualitäten dürften bei den Verhandlungen mit Netflix zur simultanen Ausstrahlung eine nicht unwichtige Rolle gespielt haben.

Violet Evergarden Protagonistin

Die Detailtreue der Animationen steht auch bei Violet Evergarden im Vordergrund. Das macht aus einer soliden, aber nicht einzigartigen Geschichte eine emotionale Erfahrung, bei der jede einzelne Geste und Einstellung mit Bedacht gezeigt wird. Der Anime basiert auf einem Roman von Kana Akatsuki, der in einem Wettbewerb von Kyoto Animation gleich drei Preise für seine Erzählung gewonnen hat und als schwer adaptierbar galt. Das hat glücklicherweise auch das Team um den zuständigen Regisseur Taichi Ishidate mitbekommen und das Drehbuch dementsprechend angepasst. Statt sich direkt mit den gepriesenen Romanen zu messen, nimmt er die Grundlage und schildert vor allem neue Geschichten.

So erzählt die Serie erstmal nur als roter Faden die Geschichte von Violet, die einen neuen Sinn sowie alte Liebe sucht und dabei mit ihrem neuen Beruf als Briefschreiberin und Gewohnheiten aus dem Militär zu kämpfen hat. Die meisten der dreizehn Episoden widmen sich vordergründig aber Einsätzen der Protagonistin als AKORA (Nochmal, weil es so schön auf der Zunge liegt: Autonome Korrespondenz Assistentin). Sie reist an eine bunte Auswahl an Orten in einer Art Europa des 19. Jahrhunderts und erlebt die Geschichten ihrer Kundschaft, während sie an ihrer Schreibmaschine Briefe verfasst. Der Zuschauer erfährt so über die Folgen des Krieges, eine todkranke Mutter und ihr Kind und sogar die Shakespeare-esque Liebesgeschichte einer jungen Prinzessin.

Die komplizierteste Berufsbezeichnung der Welt

Diesen - auf den ersten Blick klischeelastigen - Szenarien kommt wieder die Handfertigkeit des Studios zugute. Kleinste Details, Bewegungen und Mimik, die in Realfilmen ein guter Schauspieler zustande bringt, werden hier in präziser Kleinstarbeit animiert. Ein Beispiel: Violets metallene Prothesenhände müssen, dem Beruf geschuldet, oft grazil und schnell in Großaufnahmen über die Tastatur einer Schreibmaschine huschen. Wo andere Künstler ihr Handtuch geworfen und auf 3D-Modelle zurückgegriffen hätten, hat Kyoto Animation echte Bewegungsabläufe dokumentiert, simuliert und schließlich per Hand aufs Papier gebracht. Alleine die erste Szene mit einer Schreibmaschine wurde einen Monat lang animiert, die Blätter der Entwürfe sollen fast zwei Meter messen. Die metallene Optik hat das Studio in der Arbeit zur Serie Sound Euphonium gemeistert, die ein Orchester begleitet und manche Künstler dazu gebracht hat, nie wieder Instrumente zeichnen zu wollen.

Violet Evergarden Hände

Doch der visuelle Bombast in jeder Sekunde dient nicht nur dazu, den Stil in den Vordergrund zu stellen. Auch die Substanz wird nicht vernachlässigt, von der Animation profitiert die Handlung nämlich ungemein. Die emotionale Geschichte um Violet und ihre Verbindung zum vermissten Kommandanten Gilbert, der ihr Emotionen geschenkt hat, die sie nicht versteht, intensiviert sich nur. Eine gut inszenierte Bewegung in dem Übergang zwischen zwei Szenen, die Spiegelung in den Augen: Kleine Ticks der Charaktere sind ein wichtiger Bestandteil der Serie. Wie eine Person geht oder ihre Hände aneinander reibt, verrät natürlich mehr über manchen Charakter, als ein Exposition bringender Erzähler. Das mag für Cineasten ganz natürlich klingen, war aber in diesem Ausmaß nur selten in einem handgezeichneten und animierten Medium zu finden.

Fazit

Violet Evergarden verändert den Blick auf den Briefkasten: Vielleicht, nur vielleicht, verbirgt sich zwischen Rechnung und Zeitung ja ein Brief? Das mag sich eventuell kitschig anhören, doch die Anime-Serie ist eine audiovisuelle und emotionale Erfahrung voller Details, die den Zuschauer nicht ungerührt zurücklässt. Fans von Kyoto Animation haben die Serie sicherlich schon gesehen, alle anderen sollten das schnell nachholen. Selbst auf die Gefahr hin, dass die Handlung nicht ankommt, gibt es immerhin wunderschöne Landschaften und Schreibmaschinen zu sehen.

Alle Episoden von Violet Evergarden sind im Stream bei Netflix zu sehen.

zusätzlicher Bildnachweis: 
© Kyoto Animation/Netflix

Violet Evergarden - Trailer Deutsch/German (Netflix original by Kyoto Animation)

Regeln für Kommentare:

1. Seid nett zueinander.
2. Bleibt beim Thema.
3. Herabwürdigende, verletzende oder respektlose Kommentare werden gelöscht.

SPOILER immer mit Spoilertag: <spoiler>Vader ist Lukes Vater</spoiler>

Beiträge von Spammern und Stänkerern werden gelöscht.

Nur angemeldete Benutzer können kommentieren.
Ein Konto zu erstellen ist einfach und unkompliziert. Hier geht's zur Anmeldung.